Die Saat - Ray, F: Saat
passiert, das entnimmt er ihrem gefrorenen Blick und ihrem monotonen Ja. Schließlich legt sie auf, atmet durch und sagt: »Der Pflegedienst. Meinem Vater geht’s nicht gut. Er muss den ganzen Morgen im Badezimmer gelegen haben. Ich muss zu ihm.« Mit zwei Handgriffen hat sie das Wichtigste in ihre Umhängetasche geworfen. Als sie aufsteht, sieht sie ihn an. »Versprich mir, Ethan, dass du ohne mich nichts unternimmst!«
»Nein, ich bleibe hier«, versichert er.
»Lorraine, ich könnte Sie mitnehmen«, hört er Camille sagen.
Sie nickt und reicht Ethan die Hand. »Geben Sie acht auf sich«, flüstert sie.
Er füllt einen Teil der Saatkörner in einen leerenBriefumschlag. »Würden Sie etwas für mich tun? Das untersuchen lassen?«
Als die schwere Sicherheitstür ins Schloss fällt, bleibt er einfach sitzen und starrt auf das Desktop des Monitors, über den inzwischen goldene Kugeln schweben. Noch immer kann er nicht fassen, was passiert ist. Nicht, dass Sylvie tot ist, nicht, dass Mathilde tot ist, und nicht, dass er einen Menschen erschossen hat. Wieso lebt er noch in diesem Leben, das zu einem Albtraum geworden ist? Warum entkommt er immer wieder dem Tod? Er hat vor langer, langer Zeit aufgehört, an Schutzengel zu glauben. Obwohl zu Hause vor dem Essen gebetet wurde, obwohl seine Mutter so stolz auf ihre Großeltern war, die in Südaustralien eine Missionsstation betreut hatten. Sie hinterließen ihrem Enkelkind, seiner Mutter, das Bewusstsein, dass die Welt und alle Menschen unvollkommen, nicht gut, nicht aufrichtig, nicht würdig genug waren und dass das Leben aus harter Arbeit und stetem Verzicht bestand. Noch heute fragt er sich, wie sein Vater es mit dieser Frau ausgehalten hat. Als er der Farm und seinen Eltern den Rücken kehrte, um nach Sydney zu gehen, hat seine Mutter ihm ein Leben voller Sünde vorausgesagt. Die gescheiterte Ehe mit Ruth war für sie, die im Alter immer freudloser und strenger wurde, wie eine Bestätigung ihrer Prophezeiung.
Zur Beerdigung seiner Mutter vor fünf Jahren flog er nach Australien. Die Vorstellung, seinen Vater, den Ort seiner Kindheit, die stets dem Überlebenskampf ausgesetzte Farm zu sehen, hatte ihn tagelang nicht schlafen lassen, und er hatte schon überlegt, gar nicht zu fliegen. Doch dann wurde ihm klar, dass er nur zu feige war, seinem alten Leben ins Auge zu blicken, und er flog.
Sein Vater war um Jahrzehnte gealtert, die Haut trocken und rissig wie das Land, auf dem er schon lange anstelle von Rindern anspruchslosere Schafe weiden ließ. Zwei treueArbeiter halfen ihm beim Zäunesetzen und bei Reparaturen. Ethans Mutter hatte sich die letzten Jahre in Schweigen gehüllt, betete und las in der Bibel. Brenda, die Nachbarin, warf ihm am Grab böse Blicke zu. Sie mochte ihn nicht, seitdem er mit sechzehn mit ihrer Tochter Schluss gemacht hatte. Berge von Schuld bauten sich vor ihm auf, er hätte sich um seine Eltern, um Ruth, um seinen Sohn Steven kümmern müssen, ja am besten gar nicht weggehen sollen. Doch er nahm die Schuld nicht an. Er konnte nicht für alle Verantwortung tragen, die mit ihrem Leben nicht klarkamen.
Ganz am Anfang seiner Beziehung zu Sylvie hatte er ein paar Mal mit dem Gedanken gespielt, Steven zu sich zu holen. Aber die bürokratischen Hürden erschienen ihm unüberwindlich, und was sollte Sylvie mit dem achtjährigen Jungen einer fremden Frau? Vielleicht hätte er mit ihr darüber reden sollen.
In seinem Magen regt sich ein ungutes Gefühl, und ihm fällt ein, dass er zuletzt im Flugzeug etwas gegessen hat. In der Teeküche findet er ein Stück trockenes Baguette und ein Glas Erdbeermarmelade. Nicht gerade üppig, aber etwas, das seine Magennerven beruhigt. Seit Tagen schon hat er nicht mehr geraucht, fällt ihm jetzt ein.
Mathilde ist beobachtet worden – aber nicht von der Polizei. Irgendwer muss gewusst haben, dass er bei ihr auftauchen würde. Und irgendwer wollte an das kommen, was im Schließfach lag. Man hätte ihn auch in den Straßen von Gibraltar überfallen können. Nein, er sollte ermordet werden – genauso wie alle möglichen Mitwisser. Er isst das letzte Stück Marmeladenbrot, stellt das Glas zurück in den Kühlschrank und geht wieder ins Büro. Ein menschenleerer Raum, in dem alles für den Menschen eingerichtet ist, hat etwas Deprimierendes, es ist, als würden alle Gegenstände darauf warten, dass sie endlich wieder gebraucht werden, dass sie endlich wieder von Leben umgeben sind.
Nachdenklich lässt er zum
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