Die Saat - Ray, F: Saat
wieder am Arm gefasst. »Wo stehstdu in dieser Geschichte, Camille?« Sein Blick durchbohrt sie.
»Ich bin Journalistin«, antwortet sie kühl.
Kopfschüttelnd lässt er ihren Arm los. »Okay, ich hab es begriffen. Océane Rousseau hat dir eine Superstory versprochen.«
Sie wendet sich ab.
»Stell alles auf die Homepage«, sagt er.
»Was?« Sie fährt herum.
»Es ist die einzige Möglichkeit, die Öffentlichkeit zu erreichen und etwas in Bewegung zu setzen gegen Edenvalley.«
»Aber …«
»Camille, alles, was bisher passiert ist, gehört irgendwie zusammen.«
Sie will etwas einwenden, doch er redet weiter.
»Folgendes: Offenbar ist eine Maissorte ausgesät worden, die im Tierversuch tödliche Auswirkungen hatte. Dr. Frost vermutete eine Sorte von einem bekannten Agrarkonzern. Frost wurde auf bestialische Weise umgebracht. Es geht womöglich nicht nur um die Vertuschung eines unerhörten Skandals, sondern um noch viel mehr: um die Kontrolle über unsere Nahrung, über unsere Fortpflanzung, über unsere Freiheit.
Wer verbirgt sich hinter The Three Poles? Wer hinter NAT, dem Finanztrust, der gerade den modernsten Saatgutbunker gebaut hat? Welchen Zweck hat der Bunker wirklich?«
Sie überlegt. Die Story wird Staub aufwirbeln. Wird Kontroversen auslösen – und Tout Menti! und sie, Camille Vernet, ins Gespräch bringen. Ja …
»Gut. Tun wir das – aber in satirischer Form. Ich will keine Verleumdungsklage an den Hals kriegen. Und … ich fliege trotzdem nach Ellesmere Island.«
Er nickt. »Und ich komme mit. Ich will dieser Frau gegenüberstehen, die Sylvie hat töten lassen.«
»Du weißt nicht, dass sie es getan hat«, protestiert sie. Warum sollte sie so etwas tun, wenn sie die Welt retten will?
Er nimmt seine Jacke vom Stuhl. »Ich muss packen.«
Wenig später fällt die Wohnungstür ins Schloss, und sie hört, wie sich seine Schritte entfernen.
Du musst nach deinem Vater sehen, meldet sich ihre innere Stimme. Das auch noch … Macht sie denn gerade alles falsch?
8
Genf
Dr. Océane Rousseau steht am Fenster des vierten und obersten Stocks des Verwaltungsgebäudes und lässt ihren Blick über den funktionellen, schmucklosen Gebäudekomplex von Edenvalley Europa schweifen. Ein ansehnliches weitläufiges Gelände an der Route de Pré-Bois bei Vernier, wenige Kilometer vom Stadtzentrum entfernt. In den vier Etagen des L-förmigen Gebäudes sind Verwaltungsbüros sowie drei Kantinen und ein bescheidener Fitnessraum untergebracht, darauf hat sie bestanden. Im separaten rechteckigen, ebenfalls vierstöckigen Block, den ein neuer gläserner Übergang mit dem langen Schenkel des Verwaltungsgebäudes verbindet, befinden sich ausschließlich Forschungslabors. Die Produktionshalle an der der Straße zugewandten Seite wurde erst vor drei Jahren um ein Drittel vergrößert, erinnert sie sich, als notwendige Maßnahme angesichts der zunehmenden Nachfrage nach Edenvalley-Saatgut auf den Weltmärkten. Und Genf ist nur ein Standort von dreißig weltweit. Edenvalley ist Weltmarktführer in der Saatgutproduktion mit dreizehntausend Mitarbeitern.
Sieben Jahre ist sie nun schon Vizedirektorin. Vize. Dabei ist sie so viel intelligenter als er. Sie dreht sich um und betrachtet ihn, den Direktor mit dem Namen eines Schauspielers. Er ist lächerlich. Und dennoch Direktor, weil die Loge Männer bevorzugt.
Ganz einfach. Archaisch einfach.
»Im nächsten Jahr sollten wir den Raum hier renovieren«, sagt er. Er hat seinen Platz am oberen Ende des auf Hochglanz polierten ovalen Mahagonitischs eingenommen. Ein kleines Treffen, hat James gesagt, da Bob und Ted gerade Termine bei der UNO haben – und er, James, ebenfalls in Genf ist.
»Und ein paar neue Bilder aufhängen. Was ist denn im Augenblick angesagt auf dem Kunstmarkt, Ocean?« Er grinst herausfordernd.
Dass er ihren Namen nicht richtig aussprechen kann, ruft jedes Mal Verachtung in ihr hervor. Ist Océane wirklich so schwer zu sagen?
»Sibelius.«
»Ja! Den Namen kenne ich. Ein neuer Stern am Berliner Kunsthimmel. Oder Wien? Was malt er doch gleich?«
Anfangs hat sie geglaubt, er würde nur Spaß machen, das Spiel mitspielen, bis sie merkte, dass er keine Ahnung hat. Aufgewachsen in einer langweiligen Siedlung bei Detroit, der Vater ein unbedeutender Angestellter bei General Motors, die Mutter den ganzen Tag mit vier Kindern, Waschen, Putzen und Kochen beschäftigt. Musik kannte er nur aus dem Radio und von der Hardrock-Band, in der er zwei Jahre lang die
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