Die Saat - Ray, F: Saat
da kann man nicht so einfach wieder umkehren. Außerdem hat sich Christian wirklich ins Zeug gelegt, damit er so kurzfristig eine Besuchserlaubnis bekam. Sein Vater hat seine Verbindungen spielen lassen, warum auch nicht.
Wenn sie Licht in diesen Fall bringt, ihn von einer anderen Seite angeht als die Polizei, dann wird ihr, Camilles, Name bald in aller Munde sein. Die Vernet ist an der Sache dran, besser, wir ziehen uns warm an …
»Wir sind da, Madame«, sagt der Taxifahrer und dreht sich zu ihr um, die Frage im Blick, ob sie hier wohl eine Angehörige zu besuchen hat.
Camille zahlt, nimmt ihre Handtasche und steigt aus. Die Autotür schlägt mit einem dumpfen Klacken zu, der Wagenfährt davon, und dann ist es für einen Moment so still, dass sie nur das ganz leise Platschen der Regentropfen hört, die auf den öligen Pfützen zerspringen.
Als Camille an der Mauer hinaufsieht, zuckt sie zusammen – ein in seiner Hässlichkeit einschüchternder fünfeckiger Wachturm ragt vor ihr auf. Ein harmloser Vorgeschmack wahrscheinlich auf das, was sie innen erwartet. Aber sie weiß, dass sie in einer Stunde wieder draußen sein wird, im Gegensatz zu Véronique Regnard. Entschlossen streift sie sich den Riemen der Handtasche über die Schulter und geht auf das schwere Metalltor zu.
Sie hat sich nicht getäuscht. Sie steht in einem kargen Empfangsraum, in dem Neonlichter trübe flackern. Die Pförtnerin, eine picklige Frau mit aufgeschwemmtem Gesicht und farblosem Haar, das sie straff nach hinten gebunden trägt, schiebt ihr grußlos das Anmeldeformular unter einer gläsernen Trennscheibe durch. Der Duft von billigem Parfüm drängt sich mit hindurch. Camille wird in ein Nebenzimmer gebeten, wo sie vor einer Vollzugsbeamtin, einem freundlich lächelnden Muttertyp, ihre Handtasche und ihre Taschen leeren muss und nach versteckten Waffen abgetastet wird. Camille versucht, sich aus ihrem Körper hinauszudenken, doch es gelingt ihr nicht, immer wieder kommt ihr der Gedanke, wie sie es ertragen könnte, Gefangene zu sein. Camille wird belehrt, dass jeglicher körperlicher Kontakt mit der Gefangenen untersagt ist und dass sie ihr auch nichts übergeben darf. Ja, selbstverständlich. Ja. Und dann der Gang ins Innere des Baus. Obwohl die Beamtin munter plaudert, wie auf einem Stadtrundgang, ist es für Camille, als würde sie sich mit jedem Schritt durch diese Flure mit den schweren alten Holztüren weiter von der Welt entfernen und hineintaumeln in die finsteren, Kohlgeruch und jahrhundertealten Moder ausdünstenden Gedärme von Bonne Nouvelle, aus denen es keinen Ausgang mehr gibt.
»Hier ist es.« Das Rasseln des mächtigen Schlüsselbundes weckt Camille aus ihrem seltsamen Zustand. Die dunkle Holztür springt auf, und ein nackter Raum mit einem schäbigen Holztisch und zwei Holzstühlen, alles mit Schrauben am Boden fixiert, wartet auf sie.
»Ich hole sie gleich.«
Camille nickt, setzt sich auf einen harten Stuhl und sucht einen Moment Entspannung, indem sie ihren Blick auf das kleine vergitterte Fenster im oberen Drittel der Wand gegenüber richtet, durch das ein Schimmer des grauen Tages hereindringt. Camille nimmt ihre Tasche auf den Schoß, zieht einen Kugelschreiber und den schwarzen Notizblock heraus und ordnet beides symmetrisch vor sich auf dem Tisch an. Kurz denkt sie an einen Film, in dem ein Gefängnisinsasse mit einem Kugelschreiber das Auge des Anwalts aussticht … Hör auf, Camille! Das Aufnahmegerät wurde ihr nicht gestattet, und so kann sie nur auf ihr Gedächtnis und ihr Schreibtempo hoffen. Sie lauscht. Keine Vogelstimmen, keine Autogeräusche, aber da, irgendwo in der Ferne, glaubt sie das schrille Klimpern von Schlüsseln, das Quietschen einer Tür, Schritte und Stimmen zu hören. Dann ist es wieder still. Die dicken Mauern halten das Leben fern. Wie erträgt man hier einen Tag, eine Nacht und wieder den nächsten Tag? Sechs, sieben, zwanzig Jahre lang? Wie ist es, wenn das hier zur Welt wird und das Draußen zu etwas Irrealem, Unerreichbarem?
Plötzlich sind die Schritte ganz nah. Camille dreht sich zur Tür. Da steht sie: Véronique Regnard, eine kleine, schmächtige Frau mit runder Nickelbrille und üppigem, gelocktem schulterlangem Haar, dessen Rot allmählich verblasst. Bibliothekarin. Unwillkürlich stellt sich Camille ihren eigenen Körper in der groben grauen Kluft der Gefangenen vor. Wie lange würde sie hier überleben?
»Sie brauchen nur zu rufen, ich bin hinter der Tür«, sagt die
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