Die Saat - Ray, F: Saat
… ich habe schreckliche Albträume.« Ihre Augen glänzen wässrig, als hätte sie geweint. Sie setzt sich auf die Kante des Doppelbettes, legt die Hände auf die Knie und sieht zu ihm auf. »Lass uns zurückfliegen, Ethan. Jetzt gleich.«
Er bleibt vor ihr stehen. »Warum?«
Wieder beginnt sie, ihre Finger ineinander zu verschränken. »Das alles erinnert mich so an meine Kindheit.«
Ihr Blick wandert zum Fenster, in ihren Augen spiegelt sich das bleiche Licht.
Ihre Hände lösen sich, eine Hand greift nach seiner. Er erschrickt, wie kalt sie ist, und lässt sie los. Im Halbdunkel sieht er ihre Lippen zittern. Er kann ihren Atem nach Mandeln und Heidelbeeren riechen. Einen magischen Moment lang ist er ihr ganz nah, dann steht sie auf, zieht ihren Pullover über den Kopf und bindet den langen Rock auf, lässt ihn auf ihre nackten Füße fallen.
Das fahle Licht legt sich auf ihre bleiche Haut. Ein Körper aus Porzellan. Unwirklich vollkommen. Sie nimmt seine Hand und legt sie auf ihre linke Brust. Die Wärme ihrer Haut überrascht ihn.
»Spürst du mein Herz schlagen?«, flüstert sie.
Er weiß, dass es nicht richtig ist, es darf nicht sein, aber er kann sich nicht von ihrem Anblick losreißen, kann sich nicht abwenden von ihrem jungenhaften Körper mit den kleinen festen Brüsten, dem flachen Bauch und den muskulösen und für ihre Größe langen Beinen, vergleicht ihn mit Sylvies Körper, der viel weiblicher war. Auch Sylvie stand einmal so vor ihm, damals, er erinnert sich genau, am ersten Abend in Biarritz, sie hatten den ganzen Tag am Strand in der Sonne verbracht, und Sylvies Bikini hatte exakte Umrisse auf ihrer Haut hinterlassen …
Er steht immer noch da, jetzt in Tromsø, wird ihm bewusst, während seine Hand ihre Brust umfasst, sein Blick von ihren Augen eingefangen ist. Da zieht sie seine andere Hand heranund legt sie auf den dreieckigen Schatten zwischen ihren Beinen. Er spürt gekräuseltes festes Haar und tiefer darunter seidenzarte Kühle, die sich ihm öffnet.
»Schlaf mit mir«, ihre Stimme ist ganz nah, ganz leise an seinem Ohr. Etwas in ihm wird stärker als Anstand, als Moral, als Zweifel, als Angst, er spürt es, es ist etwas, das tief aus seinem Innern kommt, etwas, das ihn retten – oder in den Abgrund reißen kann. Sie schmiegt sich an ihn, wie eine Katze. »Ich gefalle dir doch«, flüstert sie dabei. Der Geruch nach Heidelbeeren verwirrt ihn, erinnert ihn an etwas, woran er sich jetzt nicht erinnern will. »Jeden Moment kann das Leben zu Ende sein, Ethan.« Sie reibt sich an ihm, und er ist versucht, sich einfach gehen zu lassen, sich hineinfallen zu lassen in diesen Augenblick der Nähe. »Komm schon, was zögerst du?«, flüstert sie, und ihre Hand schiebt sich zwischen seine Beine.
Da endet etwas. Als wenn ein Film reißt und er nur noch auf eine leere, allem Zauber beraubte Leinwand starrt.
Ihre Augen sind schmal geworden. »Du wirst nichts mehr ändern können. Deine Frau ist tot.«
Es ist wie ein Schlag in den Nacken, der ihn in die Knie zwingt. Sie zögert einen Moment, dann rafft sie ihre Kleider zusammen, dreht sich um und wirft die Tür hinter sich zu.
Er versucht zu schlafen, doch die Heidelbeeren lassen ihn nicht los, er schmeckt sie auf der Zunge, er sieht sich mit Sylvie durch Heidelbeerbüsche rennen, ihr Haar wie ein goldener Schweif, ihre langen Beine von einem langen Sommer gebräunt … am Horizont ein violetter Schimmer … und ihr Lachen, das alles erfüllt … Und wenn alles eine Lüge war?
Hat es diese Liebe denn wirklich noch gegeben oder war sie schon längst gestorben?
Endlose Stunden liegt er wach.
6 Montag, 31. März
Paris
»The Project, hast du mal davon gehört?« Camille überfliegt auf dem Monitor die Einträge, die sie dazu findet, und beißt in einen Apfel. Bisher hat sie nur einen Milchkaffee gehabt. Definitiv zu wenig. Schon im Krankenhaus bei ihrem Vater heute Morgen hatte sie ein flaues Gefühl im Magen, aber keinen Appetit auf das Weißbrot, das er ihr von seinem Frühstück angeboten hat. Fast die ganze Flasche Sauvignon – diesmal aus dem Supermarkt – hat sie noch nach der Sendung getrunken und dann den nächsten Tag verschlafen. Ihre Knie, nein, ihr ganzer Körper fühlt sich seltsam an, als wäre er aus Watte, sie kann sich nicht konzentrieren, immer schiebt sich das Bild von Océane Rousseau vor die Wirklichkeit, wie sie in der Nacht in der Limousine gesagt hat: Sie könnten etwas viel, viel Größeres bewegen, Camille. Das
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