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Die Saat

Die Saat

Titel: Die Saat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Guillermo Del Toro
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einen Moment, ordnete seine Erinnerungen. »Ich war damals noch ein junger Mann. Während des Zweiten Weltkriegs fand ich mich im besetzten Polen interniert. Es war ein kleines Lager, ein furchtbarer Ort. Nicht nur wegen der Nazis - meine Mitgefangenen und ich waren dort ein Festschmaus für ihn.«
    »Ihn?«
    »Den Meister.«
    Die Art, wie er das Wort aussprach, ließ Nora frösteln. » War er ein Deutscher?«
    »Nein, nein. Er hat keine ... Nationalität. Er ist nichts und niemandem gegenüber loyal. Er geht dorthin, wo es ihm beliebt. Er frisst, wo es Nahrung gibt. Das Lager war für ihn wie ein großes Buffet. Leichte Beute.«
    »Aber Sie ... Sie haben überlebt. Hätten Sie es nicht jemandem erzählen können?«
    »Wer hätte denn dem wirren Gerede eines vor Hunger halb wahnsinnigen Mannes Glauben geschenkt? Ich habe Wochen gebraucht, das zu akzeptieren, was Sie jetzt gerade akzeptieren müssen, und ich war immerhin Augenzeuge seiner Schreckenstaten. Das hier geht weit über alles hinaus, was der Verstand bereit ist zu glauben. Ich wollte nicht für verrückt erklärt werden. Nachdem seine Nahrungsquelle versiegt war, zog der Meister einfach weiter. Aber ich hatte in diesem Lager ein feierliches Versprechen abgelegt, das ich niemals vergessen habe. Ich bin viele Jahre seiner Spur gefolgt, quer durch Mitteleuropa und den Balkan, durch Russland und Zentralasien. Drei Jahrzehnte lang. Manches Mal war ich ihm dicht auf den Fersen, doch ich bin ihm niemals wirklich nahe genug gekommen. Ich wurde Professor an der Universität Wien, studierte Mythen, Überlieferungen. Ich begann, Bücher und Waffen und Werkzeuge zusammenzutragen, während ich mich darauf vorbereitete, ihm erneut gegenüberzutreten. Eine Gelegenheit, auf die ich inzwischen mehr als sechs Jahrzehnte warte.«
    »Aber ... wer ist er denn nun?«
    »Er hat im Laufe der Zeit viele Gestalten angenommen.
    Gegenwärtig steckt er im Körper eines polnischen Adligen namens Jusef Sardu, der während einer Jagdexpedition im Norden Rumäniens verschwand. Das war im Frühling des Jahres 1873.«
    »I873?«
    »Ja. Sardu war ein Riese. Zum Zeitpunkt der Expedition war er bereits über zwei Meter groß. Viel zu groß, als dass seine Muskeln die langen, schweren Knochen hätten tragen können. Man erzählte sich, dass seine Hosentaschen so groß wie Rübensäcke waren. Er musste sich schwer auf einen Gehstock stützen, dessen Knauf das Wappentier seiner Familie zierte.«
    Wieder warf Nora einen Blick auf Setrakians Gehstock, auf den silbernen Knauf. Sie bekam große Augen. »Ein Wolfskopf ... «
    »Die sterblichen Überreste der anderen Expeditionsteilnehmer wurden viele Jahre später gefunden, zusammen mit dem Tagebuch des jungen Jusef. Dort ist ausführlich beschrieben, wie die Jagdgesellschaft immer wieder von einem unbekannten Raubtier heimgesucht wurde, das sie einen nach dem anderen verschleppte und tötete. Der letzte Eintrag beschreibt, wie Jusef die Leichen am Eingang zu einer Höhle entdeckte. Er begrub sie, bevor er zu der Höhle zurückging, um sich der Bestie zu stellen und seine Familie zu rächen.«
    Nora konnte den Blick nicht von dem Knauf abwenden. »Wie sind Sie in seinen Besitz gekommen?«
    »Im Sommer 1967 war ich diesem Gehstock bis zu einem privaten Antiquitätenhändler in Antwerpen gefolgt.« Setrakian räusperte sich. »Aber zurück zu Sardu ... Er kehrte schließlich zum Anwesen seiner Familie nach Polen zurück, viele Wochen später, allein und erheblich verändert. Er führte zwar noch den Gehstock bei sich, stützte sich aber nicht mehr darauf und hörte schließlich ganz auf, ihn zu benutzen. Er war anscheinend nicht nur von den Schmerzen seines Riesenwuchses geheilt, es ging auch das Gerücht, dass er übermenschliche Kraft besaß. Und es dauerte nicht lange, bis die ersten Dorfbewohner spurlos verschwanden. Es hieß, die Stadt sei verflucht - und schließlich wurde sie aufgegeben. Das Haus Sardu zerfiel, und der junge Herr ward nie wieder gesehen.«
    Nora musterte den Gehstock von oben bis unten. »Mit fünfzehn war er schon so groß?«
    »Und noch im Wachstum.«
    »Der Sarg ... er war mindestens zweifünfzig mal einszwanzig groß.«
    Setrakian nickte ernst. »Ich weiß.«
    Nora zog eine Augenbraue hoch. »Woher wissen Sie das?«.
    »Ich habe ihn einmal gesehen - zumindest die Spuren, die er auf dem Boden hinterließ. Vor langer, langer Zeit.«
    Kelly und Eph standen sich in der Küche gegenüber. Ihr Haar war heller und kürzer, irgendwie,

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