Die Saat
wir.«
Kelly nickte. Eph nickte. Er ließ die Milch in der Packung kreisen, spürte die kalte Flüssigkeit durch den Karton auf seiner Handfläche. »Himmel, was für ein Tag!«, stöhnte er. Wieder dachte er an das kleine Mädchen in Freeburg, das Mädchen, das auf Flug 753 die Hand seiner Mutter gehalten hatte. Das Mädchen, das etwa so alt war wie Zack. »Weißt du noch, was du immer zu mir gesagt hast? Falls irgendetwas passiert, falls es zu einer biologischen Bedrohung kommt wenn ich es dir nicht als Erste sage, würdest du mich verlassen. Tja, dazu ist es jetzt zu spät.«
Sie musterte sein Gesicht. »Ich weiß, dass du in Schwierigkeiten steckst.«
»Es geht nicht um mich. In der Stadt breitet sich ein Virus aus. Er ist ... außergewöhnlich ... bei weitem das Schlimmste, was ich je gesehen habe.«
»Das Schlimmste? Ist es SARS?«
Beinahe hätte Eph laut gelacht. Es war alles so absurd ... »Ich will, dass du mit Zack die Stadt verlässt, Kel. Nimm Matt mit. Und zwar so schnell und so weit weg wie möglich - heute Nacht, jetzt sofort. Weg aus den dicht besiedelten Gebieten, meine ich. Deine Eltern ... ich weiß, was du davon hältst, sie um einen Gefallen zu bitten, aber sie haben doch noch dieses Haus oben in Vermont, stimmt's? Oben auf dem Berg?«
»Was redest du da?«
»Fahrt dorthin. Wenigstens für ein paar Tage. Schau dir die Nachrichten an, warte auf meinen Anruf.«
»Moment mal, ich bin doch hier eigentlich die Auf-unddavon-Paranoikerin. Und ... was ist mit meiner Klasse? Zacks Schule?« Sie blinzelte. »Warum sagst du mir nicht, worum es sich hier handelt?«
»Weil du dann niemals fahren würdest. Vertrau mir einfach. Geh und hoffe, dass wir es noch irgend wie verhindern können.«
»Hoffen? Jetzt machst du mir wirklich Angst. Was, wenn ihr es nicht verhindern könnt? Und - was, wenn dir etwas zustößt?«
Er konnte ihr unmöglich seine Zweifel mitteilen. »Kelly, ich muss los.«
Er wandte sich zum Gehen, doch sie packte seinen Arm, blickte in seine Augen, um zu sehen, ob alles okay war, dann nahm sie ihn in die Arme, hielt ihn ganz fest. »Es tut mir leid«, flüsterte sie in sein Ohr und ließ einen Kuss auf seinem unrasierten Hals zurück.
Vestry Street, Tribeca
Eldritch Palmer saß auf einem ungepolsterten Stuhl auf der Dachterrasse, die sich auf dem niedrigeren der beiden zusammenhängenden Gebäude befand. Es war Nacht, das einzige direkte Licht kam von einer Campinggaslampe, die in einer Ecke brannte. Der Boden der Terrasse bestand aus quadratischen Tonziegeln, die von Wind und Wetter ausgeblichen waren. Eine flache Stufe führte zu einer hohen Backsteinmauer an der Nordseite, in der sich zwei Torbögen mit schmiedeeisernen Türen befanden. Die Mauer und die Auskragungen an beiden Enden waren mit kannelierten Terracottaziegeln bedeckt. Links davon kam man durch breite Schmuckbögen mit überdimensionierten Türflügeln zu Bolivars Residenz.
Hinter Palmer stand vor der weiß getünchten Betonwand eine kopflose Frauenstatue mit wallendem Gewand, die Schultern und Arme verwittert und dunkel. Efeu schlängelte sich den steinernen Sockel herauf. Auch wenn im Norden und Osten noch höhere Gebäude standen, besaß die Terrasse doch ausreichend Privatsphäre und war wohl einer der bestverborgenen Dachgärten Lower Manhattans.
Palmer saß da und lauschte den Geräuschen der Stadt, die von der Straße unter ihm aufstiegen. Geräusche, die schon bald verstummen würden. Wenn die Menschen dort unten das nur wüssten, dachte er, wie sehr würden sie diese Nacht auskosten. Jede Banalität des Lebens wird unendlich kostbar angesichts des unmittelbar bevorstehenden Todes. Palmer wusste dies nur zu gut. Schon sein ganzes Leben lang hatte er um seine Gesundheit gerungen, hatte an so manchem Morgen überrascht festgestellt, dass er einen weiteren Tagesanbruch erleben durfte. Die meisten Menschen hatten keine Vorstellung davon, was es hieß, sein Dasein von Sonnenaufgang zu Sonnenaufgang zu messen. Wie es war, für das eigene Überleben auf Maschinen angewiesen zu sein. Gesundheit war das Geburtsrecht der meisten, und das Leben eine Abfolge von Tagen, die man irgendwie hinter sich brachte; sie hatten nie erfahren müssen, wie nahe der Tod war, nie die Intimität dieser äußersten Dunkelheit gespürt.
Doch schon bald würde Eldritch Palmer diese Glückseligkeit kennenlernen. Eine endlose Reihe von Tagen lag vor ihm. Schon bald würde er wissen, wie es war, sich keine Sorgen um das Morgen
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