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Die Saat

Die Saat

Titel: Die Saat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Guillermo Del Toro
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Jahre Feilscherei um billigen Schmuck tagsüber - während nachts Werkzeuge und Waffen angehäuft wurden. Fünfunddreißig Jahre des Wartens, der Vorbereitung. Und jetzt lief ihm die Zeit davon.
    An der Tür berührte er die Mesusa und küsste seine runzligen Fingerspitzen, bevor er den Flur betrat. Der alte Spiegel war so zerkratzt und stumpf, dass Setrakian den Hals recken musste, um noch eine Stelle zu finden, wo er sich sehen konnte. Sein schlohweißes Haar, das hoch auf der faltigen Stirn begann und dann über die Ohren bis zum Hals reichte, hatte schon lange einen Schnitt nötig. Sein Gesicht sank stetig weiter herab; Kinn, Ohrläppchen, Augen gaben der Tyrannin namens Schwerkraft nach. Seine Hände, vor Jahrzehnten zerschlagen und schlecht verheilt, hatten sich zu arthritischen Klauen gebogen, die er unter wollenen Handschuhen mit abgeschnittenen Fingerspitzen verbarg.
    Und doch loderte es unter dieser zerbröckelnden Fassade von Mensch: ein Feuer. Eine Kraft.
    Das Geheimnis dieser Quelle jugendlicher Energie? Ganz simpel: Rache.
    Vor vielen Jahren, zunächst in Warschau und später in Budapest, gab es einen Mann namens Abraham Setrakian, angesehener Professor für osteuropäische Literatur und Volkskunde. Ein Überlebender des Holocaust, der den Skandal überstand, eine Studentin zu heiraten, und dessen Forschungsgebiet ihn in einige der dunkelsten Ecken der Welt führte.
    Heute war Abraham Setrakian ein gealterter Pfandleiher in Amerika. Und es gab etwas, das ihn verfolgte. Eine offene Rechnung.
    Er hatte noch einen Rest guter Suppe, köstliche Hühnerbrühe mit Kreplach und Eiernudeln, die ihm ein Stammkunde den weiten Weg von
Liebman's Kosher Delicatessen
in der Bronx mitgebracht hatte. Er stellte die Schale in die Mikrowelle und nestelte mit seinen knotigen Fingern an seiner Krawatte. Nach dem Piepton trug er die heiße Schale zum Tisch hinüber, zog eine Leinenserviette - niemals Papier! - aus dem Halter und steckte diese ordentlich in seinen Kragen.
    Er blies über die Suppe. Ein beruhigendes, tröstendes Ritual. Er erinnerte sich an seine Großmutter, seine
bubbe,
doch es war mehr als nur Erinnerung - es war eine
Empfindung,
ein
Gefühl.
Seine Großmutter, die für ihn über die heiße Suppe pustete, als er noch ein kleiner Junge war, an dem wackligen Holztisch in der kalten Küche ihres Hauses in Rumänien. Vor all den Sorgen. Ihr Atem wehte ihm den aufsteigenden Dampf ins Gesicht, ein magischer Moment, als würde sie einem Kind Leben einhauchen ... Als er jetzt blies nun selbst ein alter Mann -, beobachtete er, wie sein Atem durch den Dampf Gestalt annahm, und fragte sich dabei, wie viele dieser Atemzüge ihm noch blieben.
    Die verwachsenen Finger seiner linken Hand ergriffen den Löffel, einen aus einer Schublade voller origineller, nicht zueinanderpassender Gerätschaften. Dann pustete er auf den Löffel, kräuselte den winzigen Teich Brühe, bevor er ihn zum Mund führte. Geschmack kam und ging, die Knospen auf seiner Zunge starben wie alte Soldaten, Opfer vieler Jahrzehnte des Pfeiferauchens.
    Er drückte die schmale Fernbedienung des alten Sony ein Küchenmodell mit weißem Gehäuse -, und der Bildschirm flammte auf, eine weitere Lichtquelle für den Raum. Dann erhob er sich und ging zur Vorratskammer, wobei er die Hände auf die Bücherstapel stützte, die den Flur verengten. Überall waren Bücher, hoch aufgestapelt vor den Wänden, viele davon gelesen, von keinem einzigen konnte er sich trennen. Er hob den Deckel der Keksdose, um das letzte Stück Roggenbrot herauszunehmen, das er sich extra aufgehoben hatte. Den in Papier eingewickelten Laib trug er in die Küche zurück, ließ sich schwer auf den gepolsterten Stuhl fallen und machte sich daran, die kleinen Stellen Schimmel vom Brot zu zupfen, während er einen weiteren vorsichtigen Schluck der Brühe genoss.
    Das Bild auf dem Fernseher erregte seine Aufmerksamkeit - ein großes Flugzeug stand irgendwo auf einer Rollbahn, beleuchtet wie ein Stück Elfenbein auf dem schwarzen Samt eines Juweliers. Setrakian setzte die Brille mit dem schwarzen Gestell auf, die vor seiner Brust hing, und kniff die Augen zusammen, um die Bildunterschrift entziffern zu können. Die Krise des Tages fand also auf der anderen Seite des Flusses statt, auf dem JFK Airport.
    Der alte Professor sah zu, lauschte, konzentrierte sich auf das glänzende Flugzeug. Aus einer Minute wurden zwei, dann drei, während der Raum um ihn herum immer weiter verschwamm. Wie versteinert

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