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Die Saat

Die Saat

Titel: Die Saat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Guillermo Del Toro
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weil sie die dramatische Rückkehr der Sonne ohne ausreichenden Schutz verfolgt hatten. Die Netzhaut besitzt keine Schmerzrezeptoren, so waren sich die Betroffenen überhaupt nicht bewusst, dass sie ihren Augen irreversible Schäden zufügten.
    Der Diamant wuchs langsam an, wurde zu einem Bund aus Edelsteinen - den sogenannten »Baily'schen Perlen« -, die schließlich zur wiedergeborenen Sonnensichel verschmolzen und den Mond von sich schoben.
    Wie zuvor huschten Schatten über den Boden, geisterhafte Boten, die den Übergang von einer Form der Existenz in eine andere ankündigten.
    Als das gewohnte Tageslicht endlich zurückkehrte, brachen überall in der Stadt Jubel und spontaner Applaus aus. Es gab Hupkonzerte, und aus den Lautsprechern des Yankee Stadium ertönte Kate Smiths
God Bless America.
    Neunzig Minuten später hatte sich der Mond vollständig von der Sonne entfernt. Die Okkultation war vorüber. Es schien, als wäre bis auf die wenigen Minuten, in denen eine nachmittägliche Dunkelheit über den Nordosten der Vereinigten Staaten gewandert war, überhaupt nichts geschehen:
    Der Himmel sah genauso aus wie zuvor. Auch in New York, dem Zentrum der Finsternis, packten die Leute ihre Sachen zusammen. Wer nicht zu Hause war, dem graute nicht mehr vor dem Verschwinden der Sonne, sondern vor dem Verkehrschaos. Ein astronomisches Phänomen hatte für einen Augenblick bei den Menschen in der ganzen Stadt ehrfürchtiges Staunen und Beklommenheit hervorgerufen. Doch das war New York, und wenn hier etwas vorbei war - war es vorbei.
     

Erwachen
     
    Regis-Air- Wartungshangar
     
    Die Trennwände unter der Tragfläche der 777 waren beiseitegeschoben, die Planen aufgerollt. An den vorderen und hinteren Kabinentüren waren Leitern angebracht, und Beamte der Verkehrssicherheitsbehörde machten sich in der Nähe der Frachtluke zu schaffen. Das Flugzeug war nun offiziell ein Tatort.
    Nora trug eine Papierhaube auf dem hochgesteckten Haar, einen Tyvek-Overall sowie Latexhandschuhe, also einfache Schutzkleidung, wie sie bei der kriminalistischen Spurensicherung üblich war, die jedoch keinesfalls höheren Sicherheitsanforderungen genügte.
    »Das war schon ziemlich beeindruckend, findest du nicht?«, sagte sie zu Eph.
    »Ja«, erwiderte er, den Stapel Konstruktionszeichnungen unter dem Arm. »Das gibt's nur einmal im Leben.« Auf einem Tisch stand Kaffee bereit, doch Eph nahm sich nur eine Milchtüte aus einer mit Eis gefüllten Schale, riss sie auf und leerte sie in wenigen Zügen. Seit er keinen Alkohol mehr trank, lechzte er wie ein Säugling nach Milch. »Irgendetwas Neues?«
    Nora schüttelte den Kopf. »Sie bauen gerade den Stimmenrekorder und den Flugdatenschreiber aus. Ich weiß nicht, wie sie darauf kommen, dass ausgerechnet die Flugschreiber noch funktioniert haben sollen, wenn sämtliche anderen Bordsysteme komplett ausgefallen sind, aber wenn sie meinen. Bis jetzt hat uns die moderne Technik jedenfalls keinen Schritt weitergebracht. Wir sind mittlerweile seit zwanzig Stunden mit dieser Sache beschäftigt, und nach wie vor ist nichts geklärt.«
    Nora war der einzige Mensch, den Eph kannte, der unter emotionaler Anspannung besser und effizienter arbeitete als sonst. »Hat sich jemand das Innere der Maschine vorgenommen, nachdem die Leichen geborgen wurden?«
    »Nein, ich glaube nicht. Noch nicht.«
    Sie stiegen die mobile Gangway hinauf und betraten ein weiteres Mal- diesmal allerdings ohne hermetisch abgedichtete Schutzkleidung - das Flugzeug. Die Sitze waren leer, die normale Innenbeleuchtung eingeschaltet.
    »Riechst du das?«, fragte Eph. Nora nickte. »Was ist das?« »Ammoniak. Und ... «
    »Phosphor?« Nora zuckte zusammen. »Hat sie das umgebracht?«
    »Nein. Gas scheidet als Ursache aus. Aber ... « Eph sah sich um, suchte nach etwas. »Könntest du die Luma-Lampen holen?«
    Während Nora seiner Bitte nachkam, stapfte Eph den Kabinengang hinunter und ließ an jedem Fenster die Sonnenblenden herunter, damit das Flugzeuginnere so wie in der letzten Nacht abgedunkelt war.
    Kurz darauf kehrte Nora mit zwei Luma-Stäben zurück, jenen Stäben, die Schwarzlicht abgaben und Weißes geisterhaft leuchten ließen. Eph erinnerte sich an die Party zu Zacks neuntem Geburtstag, die sie auf einer »kosmischen Bowlingbahn« mit ebendiesem Schwarzlicht gefeiert hatten. Bei jedem Lächeln hatten die Zähne des Jungen strahlend weiß geschimmert.
    Sobald sie die Lampen eingeschaltet hatten, verwandelte sich die dunkle

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