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Die Saat

Die Saat

Titel: Die Saat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Guillermo Del Toro
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mit dem Vorderreifen über das Gesicht des Dicken gerollt war, kamen die hinteren Zwillingsreifen genau auf dem zerschmetterten Schädel zum Stehen. Es war ein grauenhafter Anblick.
    Gus rappelte sich auf und starrte benommen auf die Klinge in seiner Hand. Sie war weiß beschmiert.
    Dann schlug ihm jemand von hinten ins Kreuz, seine Arme wurden hochgerissen, seine Schultern auf den Asphalt gedrückt. Er trat zappelnd um sich.
    »Lassen Sie sofort das Messer fallen! Fallen lassen!«
    Mit Mühe drehte Gus den Kopf und sah zwei Cops mit hochroten Gesichtern auf sich liegen. Zwei weitere standen daneben und hatten ihre Waffen auf ihn gerichtet.
    Gus ließ das Messer los. Die Cops drehten ihm die Arme auf den Rücken und legten ihm Handschellen an. »Wieso kommt ihr Scheißbullen erst jetzt?«, rief er.
    »Leisten Sie keinen Widerstand, Sir!«, entgegnete einer der Cops und drückte Gus auf den Asphalt.
    »Der Irre hat die Familie da angegriffen. Fragt sie doch selbst!« Gus blickte zur Seite.
    Doch die Hinterwäldler waren verschwunden, so wie der Rest der gaffenden Menge. Nur Felix war noch da: Gus' Kumpel saß benommen auf der Verkehrsinsel und umklammerte seinen Hals - bis ihn ein Cop mit blauen Handschuhen packte und ihm das Knie in die Seite rammte.
    Hinter Felix sah Gus ein schwarzes Ding über die Straße rollen. Sein Hut. Das Geld. Ein langsam fahrendes Taxi machte ihn platt. Tja, so war das eben in Amerika ...
    Gary Gilbarton schenkte sich einen Whiskey ein. Freunde und Familie - sowohl väterlicher- als auch mütterlicherseits - waren schließlich gegangen, hatten jedoch stapelweise Fast-Food-Kartons im Kühlschrank und kübelweise benutzte Taschentücher hinterlassen. Am nächsten Tag würden sie ihr Leben fortsetzen. Und hatten eine Geschichte zu erzählen.
        Meine zwölf jährige Nichte war in diesem Flugzeug ....... .
        Meine zwölf jährige Cousine war in diesem Flugzeug ....... .
    Die zwölf jährige Tochter meines Nachbarn war in diesem Flugzeug ...
    Gary fühlte sich wie ein Gespenst, während er durch die neun Zimmer des Hauses in einem Vorort von Freeburg wanderte. Er berührte Dinge - einen Stuhl, eine Wand - und fühlte nichts. Nichts war mehr von Bedeutung. Erinnerungen hatten die Kraft zu trösten, doch wahrscheinlicher war, dass sie ihn in den Wahnsinn treiben würden.
    Er hatte das Telefon ausgesteckt, nachdem die ersten Journalisten angerufen hatten, um sich nach dem jüngsten Opfer von Flug 753 zu erkundigen. Um ihrer Story die berühmte menschliche Note zu verleihen.
Wer war sie gewesen?,
fragten sie ihn. Doch Gary würde den Rest seines Lebens benötigen, um auch nur einen Satz über seine Tochter Emma zu Papier zu bringen. Es würde der längste Satz aller Zeiten werden.
    Er dachte mehr an Emma als an Berwyn, seine Frau schließlich sind die Kinder Spiegelbilder unserer selbst. Er hatte Berwyn geliebt, und nun war sie nicht mehr da, doch seine Gedanken kreisten unaufhörlich um das kleine Mädchen, wie Wasser um einen sich niemals leerenden Abfluss.
    An diesem Nachmittag hatte ihn ein befreundeter Anwalt - ein Kerl, der seit über einem Jahr nichts mehr von sich hatte hören lassen - zur Seite genommen und verkündet, er werde bald ein sehr reicher Mann sein: Ein so junges Mädchen wie Emma zu verlieren, garantiere eine hohe Entschädigung.
    Gary hatte nicht reagiert, hatte den Kerl nicht vor die Tür gesetzt. Das alles war ihm egal. Er fühlte gar nichts.
    Er hatte auch sämtliche Angebote von Verwandten und Freunden ausgeschlagen, die Nacht bei ihnen zu verbringen, damit er nicht allein sei. Nein, er würde schon klarkommen - obwohl ihn bereits jetzt der Gedanke an Selbstmord beschlich. Sogar mehr als ein Gedanke: eine stille Entschlossenheit, eine Gewissheit. Aber später, nicht jetzt. Diese Gewissheit war wie Balsam für seine Seele; der einzige Weg, das alles durchzustehen, lag für ihn in dem Wissen, dass es ein Ende geben würde. Wenn alle Formalitäten erledigt waren. Wenn der Emma gewidmete Spielplatz angelegt und die Stiftung gegründet waren. Wenn er dieses verdammte Haus verkauft hatte.
    Er stand gerade im Wohnzimmer, als es an der Tür klingelte. Es war weit nach Mitternacht; sollte es ein Reporter sein, würde Gary ihn umbringen. Einfach so. Wie konnten sie es wagen, ihn um diese Zeit und an diesem Ort zu stören ...
    Er riss die Haustür auf. Und mit einem Schlag war all der aufgestaute Zorn wie weggeblasen.
    Ein Mädchen stand barfuß auf der Fußmatte.

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