Die Saat
Er erzählte ihm all die Geheimnisse, die Mom immer wissen wollte. Nichts Heikles, aber wichtig genug, um es für sich zu behalten und nur mit seinem Vater zu teilen.
Jetzt lag Zack auf seinem Bett und dachte über die Zukunft nach. Er war überzeugt, dass sie nie wieder eine Familie sein würden. Keine Chance. Aber wie viel schlimmer würde es noch werden? Das war Zack, er fragte sich ständig:
Kann es noch schlimmer kommen?
Und die Antwort war stets:
viel schlimmer.
Wenigstens würde nun die Armee besorgter Erwachsener aus seinem Leben verschwinden. Therapeuten, Richter, Sozialarbeiter, der Freund seiner Mutter - all die, die ihn für ihre eigenen bescheuerten Zwecke benutzten. Sie alle »sorgten« sich um ihn, um sein» Wohlergehen«, doch nicht einer - das wusste er - interessierte sich letzten Endes auch nur einen Furz für ihn.
Nachdem
My Bloody Valentine
im iPod verstummt war, zog Zack die Ohrhörer heraus. Obwohl es noch nicht dämmerte, fühlte er sich schon müde. Er war wahnsinnig gern müde - es hielt ihn vom Denken ab.
Er drehte sich zur Seite, hoffte auf Schlaf. Doch dann hörte er die Schritte.
Flapp-flapp-flapp.
Wie nackte Füße auf Asphalt. Zack setzte sich auf und blickte aus dem Fenster. Und sah einen Mann. Einen nackten Mann.
Der Mann trottete die Straße hinunter, seine Haut so fahl wie das Mondlicht. Glänzende Streifen überzogen seinen eingefallenen Bauch. Offensichtlich war er mal ziemlich dick gewesen, hatte aber so viel Gewicht verloren, dass sich seine Haut nun in alle Richtungen faltete und es fast unmöglich war, seine genaue Silhouette auszumachen.
Er war alt, wirkte aber gleichzeitig alterslos. Seinem schütteren Haar und den Krampfadern an den Beinen nach zu schließen musste er an die siebzig sein, doch sein Gang besaß die Vitalität und Elastizität eines weitaus Jüngeren. All das bemerkte Zack, weil er die Beobachtungsgabe seines Vaters besaß. Seine Mutter hätte ihm befohlen, vom Fenster wegzugehen, und die Polizei gerufen; Eph dagegen hätte ihn auf Details dieser merkwürdigen Erscheinung hingewiesen, die er übersehen hatte.
Die blasse Kreatur umrundete das Nachbarhaus auf der anderen Straßenseite. Zack hörte leises Stöhnen und das Rütteln am Gartenzaun hinter dem Haus. Dann ging der Nackte zur vorderen Eingangstür. Zack überlegte, ob er selbst die Polizei rufen sollte, doch das würde Mom nur misstrauisch machen. Er musste seine Schlaflosigkeit unbedingt vor ihr verbergen, sonst würde er tausend Arzttermine und Tests über sich ergehen lassen müssen, ganz zu schweigen von den Sorgen, die sie sich dann seinetwegen machte.
Der nackte Mann ging wieder auf die Straße zurück. Und blieb stehen. Seine Arme hingen schlaff herunter, die Brust war eingefallen - atmete er überhaupt? -, und sein Haar wurde von der sanften Nachtbrise zerzaust.
Dann sah er zu Zacks Fenster hinauf, und einen unheimlichen Augenblick lang trafen sich ihre Blicke. Zacks Herz raste. Zuvor hatte er nur das Profil und den faltigen Rücken des Mannes zu sehen bekommen, jetzt konnte er den kompletten Brustkorb ganz deutlich erkennen - und die blasse, Y-förmige Narbe, die sich quer darüberzog.
Und die Augen ... Wie tot, glasig, trüb selbst im sanften Mondlicht. Doch am schlimmsten war, dass sie einen fiebrigen Glanz besaßen, unentwegt hierhin und dorthin zuckten - und sich nun auf ihn richteten.
Erschrocken wich Zack zurück, räumte seinen Platz am Fenster.
Er wusste, was diese Narbe war. Eine Obduktionsnaht.
Aber konnte das sein?
Ganz vorsichtig riskierte er einen weiteren Blick über das Fensterbrett. Nun war die Straße wieder leer. Er richtete sich auf. Tatsächlich: Der nackte Mann war verschwunden.
War er überhaupt je da gewesen? Vielleicht zeitigte sein Schlafmangel nun doch gewisse Folgen. Nackte männliche Leichen, die nachts über die Straße wanderten - so etwas sollte kein Scheidungskind seiner Therapeutin erzählen.
Doch dann schoss ihm etwas durch den Kopf:
Hunger.
Ja, das war's. Die Augen des Mannes hatten ihn voller
Hunger
angestarrt ...
Zack kroch unter die Decke und vergrub sein Gesicht im Kissen. Dass der Mann weg war, beruhigte ihn keineswegs, ganz im Gegenteil. Nun konnte er überall sein. Ja, möglicherweise stieg er gerade durch das Küchenfenster ein, würde schon bald unendlich langsam die Treppe hinaufkommen - konnte er bereits Schritte hören? - und dann draußen im Flur verharren. Leise am Griff seiner Tür mit dem kaputten Schloss rütteln. Ins
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