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Die Saat

Die Saat

Titel: Die Saat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Guillermo Del Toro
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strömte ihm geradezu über die Lippen.
    »Sardu«, flüsterte Setrakian.
    Die wie poliert glänzenden Augen des Wesens wurden größer, ja für einen flüchtigen Moment wirkten sie beinahe menschlich. »Er ist nicht allein in diesem Körper«, fauchte es. »Wie kannst du es wagen, ihn anzurufen?«
    Setrakian umklammerte den Pflock hinter dem Bett, zog ihn langsam heraus. »Ein Mann hat das Recht, bei seinem Namen genannt zu werden, bevor er seinem Schöpfer gegenübertritt«, sagte er mit all dem Mut, den er aufbringen konnte.
    Das Wesen gluckste. »Wohlan, junger Mensch, so nenne mir den deinen ... «
    Setrakians Hand zuckte nach vorne, doch die Silberspitze des Pflocks verursachte ein leises, scharrendes Geräusch auf dem Boden, bevor sie auf das Herz des Wesens zuschoss. Und das genügte: Die Kreatur öffnete blitzschnell die Klaue und hielt die Waffe zwei, drei Zentimeter vor seiner Brust auf.
    Setrakian versuchte, den Pflock zu befreien, holte mit der anderen Hand aus, aber das Wesen wehrte ihn mühelos ab. Ein Stachel schoss heraus - so schnell, dass Setrakian nicht erkennen konnte, woher er kam - und ritzte die Seite seines Halses auf. Ein ruckartiger Schnitt, der jedoch ausreichte, um lähmendes Gift in seinen Körper zu spritzen.
    Dann umschloss das Wesen fest die Hände des jungen Mannes und hob ihn von der Pritsche. »Du wirst nicht vordeinen Schöpfer treten«, sagte es. »Denn ich bin persönlich mit ihm bekannt, und ich weiß, dass er
nicht mehr da ist ...
«
    Der Druck des Griffs um seine Hände raubte Setrakian beinahe das Bewusstsein. Diese Hände, die ihn im Lager so lange am Leben gehalten hatten ... Der Schädel drohte ihm vor Schmerz zu platzen, den Mund hatte er weit aufgerissen, seine Lungen schnappten verzweifelt nach Luft ... doch kein Schrei löste sich aus seinem Mund.
    Schließlich blickte ihm das Wesen tief in die Augen. In seine Seele.
    »Abraham Setrakian. Welch sanfter, süßer Name für einen so tapferen Jungen. Doch weshalb willst du mich vernichten? Womit habe ich mir deinen Zorn zugezogen, wo du doch auch in meiner Abwesenheit von nichts als dem Tod umgeben bist? Nicht
ich
bin das Ungeheuer, Gott ist es. Dein Gott und meiner, der Vater, der uns vor so langer Zeit verlassen hat. Ich sehe die Furcht in deinen Augen, junger Abraham. Deine größte Angst - sie gilt nicht mir, sondern der Grube. So siehe, was geschieht, wenn ich dich dort hineinschleudere. Gott wird nicht einen Finger rühren, um es zu verhindern. «
    Und dann, mit einem brutalen Krachen, zermalmte das Wesen die Knochen in den Händen des jungen Setrakian.
    Er stürzte zu Boden, krümmte sich, hielt seine gebrochenen Finger vor die Brust gedrückt. Er lag in einer Pfütze blassen Sonnenlichts.
    Morgengrauen.
    Das Wesen fauchte, und als die Häftlinge in der Baracke langsam wach wurden - und Setrakian in Bewusstlosigkeit versank -, verschwand es.
    Vor dem Morgenappell wurde Setrakian blutend aufgefunden und sofort auf die Krankenstation gebracht. Jeder wusste, dass verletzte Häftlinge nie wieder von dort zurückkehrten. Ein Schreiner mit gebrochenen Händen war zu nichts mehr nutze, der Oberaufseher ordnete daher Setrakian unverzügliche Exekution an. Mit den anderen beim Appell aussortierten Häftlingen wurde er zum Loch geschleppt, wo sie in einer Reihe niederknien mussten. Dicker, schwarzer Rauch verfinsterte die glühend heiße Sonne am Himmel. Setrakian hob seine zertrümmerten Hände vor die Brust und zitterte vor Angst, als er hinunter blickte.
    In die Grube.
    Die Flammen züngelten, der fettige Rauch trieb wie in einem hypnotischen Ballett darüber hinweg. Dann der schreckliche Rhythmus der Exekutionen - ein Schuss, das Klicken beim Nachladen, das leise Klimpern der von der harten Erde abprallenden Patronenhülse. Setrakian starrte in die Flammen, die Fleisch und Knochen verzehrten, die den Menschen als das offenbarten, was er war: Materie. Entbehrliches, zerstör bares, entflammbares Fleisch.
    Sardu war ein Meister des Grauens, aber was hier Menschen Menschen antaten, übertraf in der Tat alles nur Vorstellbare. Nicht nur, weil es keine Gnade, kein Erbarmen gab - sondern weil es völlig rational, weil es eine Frage der
Entscheidung
war.
    Während der Nazioffizier einem Gefangenen nach dem anderen in den Hinterkopf schoss und sie dann mit einem Tritt in die Grube beförderte, zerbröckelte Setrakians Wille. Ein Schwindel erfasste ihn, nicht wegen der Gerüche oder des grauenhaften Anblicks vor ihm, sondern

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