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Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth

Titel: Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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zwei – aber nicht fünf – Menschen über den Winter zu bringen. Es bricht mir das Herz, wenn sie geht, dachte Tom.
    Wie es wohl dem kleinen Jungen im Kloster ergehen mochte? Die Mönche hatten ihn Jonathan genannt. Tom gefiel der Name, der nach Auskunft des Mönchs mit dem Käse ›Geschenk Gottes‹ bedeutete. Er sah den kleinen Kerl vor sich, wie er nach der Geburt ausgesehen hatte – rot, runzelig und kahl. Inzwischen hatte er sich bestimmt verändert; eine Woche war im Leben eines Neugeborenen eine lange Zeit. Er war gewiss schon gewachsen, konnte die Lider weiter öffnen als zuvor und fing an, von seiner Umgebung Notiz zu nehmen: Ein lautes Geräusch schreckte ihn auf, ein Gutenachtlied beruhigte ihn. Manchmal, vor dem Aufstoßen, kräuselten sich seine Mundwinkel, sodass die Mönche in ihrer Unwissenheit meinten, er lächle …
    Hoffentlich behandeln sie ihn gut, dachte Tom. Der Mönch mit dem Käse hatte den besten Eindruck auf ihn gemacht; wenn alle so waren wie er, dann handelte es sich durchwegs um nette und fähige Männer. Auf jeden Fall war Jonathan bei ihnen besser aufgehoben als bei seinem leiblichen Vater, der weder Geld noch Obdach hatte. Wenn ich jemals wieder eine große Baustelle unter mir habe, gelobte sich Tom, und zusätzlich zu freier Unterkunft und Verpflegung die Woche vier Shilling verdiene, dann werde ich dem Kloster Spenden zukommen lassen.
    Sie erreichten den Waldrand, und kurz darauf erhob sich vor ihnen die Burg des Grafen Bartholomäus.
    Tom fasste neuen Mut, aber er ließ sich nichts anmerken. Seine Lektion nach Monaten der Enttäuschung war die, dass allzu große Erwartungen zu Beginn die Zurückweisung am Ende nur noch schlimmer machten.
    Der Weg zur Burg führte durch kahle Felder. Martha und Jack fanden ein kleines, verletztes Vögelchen, und die ganze Familie blieb stehen, um es sich anzusehen. Es war ein winziger Zaunkönig. Als Martha sich über ihn beugte, hüpfte er davon; anscheinend konnte er nicht mehr fliegen. Das Mädchen fing den Vogel ein und barg ihn in ihren Händen.
    »Er zittert ja«, sagte sie. »Ich kann es fühlen. Er muss furchtbare Angst haben.«
    Der Vogel machte keinerlei Anstalten mehr zu fliehen, sondern saß still in Marthas Hand und starrte mit hellen Augen die vielen Menschen an, die sich um ihn drängten. »Ich glaube, er hat sich den Flügel gebrochen«, sagte Jack.
    »Lass mal sehen!«, sagte Alfred zu seiner Schwester und nahm ihr den Vogel weg.
    »Wenn wir uns um ihn kümmern, wird er vielleicht wieder gesund«, sagte Martha.
    »Nein, wird er nicht«, gab Alfred zurück und drehte dem Tierchen mit seinen großen Händen den Hals um. Alles geschah ganz schnell.
    »Herrgott noch mal!«, sagte Ellen.
    Zum zweiten Mal an diesem Tag brach Martha in Tränen aus.
    Alfred lachte und warf den toten Vogel auf den Boden.
    Jack hob ihn auf. »Tot«, sagte er.
    »Was ist eigentlich los mit dir, Alfred?«, fragte Ellen.
    »Gar nichts ist los mit ihm«, antwortete Tom anstelle seines Sohnes. »Der Vogel wäre sowieso nicht zu retten gewesen.«
    Er ging weiter, und die anderen trotteten hinterher.
    Dass Ellen schon wieder auf Alfred wütend war, ärgerte ihn. Was sollte dieses Theater um einen toten Zaunkönig? Tom erinnerte sich daran, wie er sich selbst mit vierzehn Jahren gefühlt hatte, als Halbwüchsiger im Körper eines Mannes: unbehaglich und unsicher. Wenn es um Alfred geht, bist du blind, hatte Ellen ihm vorgeworfen. Sie hatte ja keine Ahnung!
    Die Holzbrücke, die über den Burggraben zum Torhaus führte, war schwach und baufällig. Der Graf hatte höchstwahrscheinlich nichts dagegen, denn Brücken verschafften auch möglichen Angreifern Einlass. Je eher sie einstürzten, desto sicherer war die Burg. Die hohen Erdwälle waren in regelmäßigen Abständen mit steinernen Wachtürmen bestückt. Das Torhaus jenseits der Brücke sah aus wie zwei mit einem Bogen verbundene Türme. Viel Mauerwerk aus Stein, dachte Tom bei sich, keine von diesen Burgen, die nur aus Lehm und Holz bestehen … Morgen habe ich vielleicht schon Arbeit. Allein der Gedanke daran, endlich wieder einmal gute Werkzeuge in der Hand zu haben, erfüllte ihn mit Begeisterung. Er sah sich die Vorderseite eines Steinblocks glätten und hörte den Meißel über die raue Fläche schaben; schon spürte er das trockene Gefühl, das der Steinstaub in seinen Nasenlöchern verbreitete … Morgen Abend habe ich vielleicht endlich mal wieder einen vollen Magen – und habe die Speisen

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