Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
Enttäuscht wandte er sich wieder dem Altar zu. Die Chance, ihren Aufenthaltsort herauszufinden, war vertan.
Sie war verschwunden, aber er konnte sie nicht vergessen. Sein Glied war steif, und er fragte sich, ob das in der Kirche eine Sünde war. Seinen Vater schien irgendetwas zu beunruhigen. »Schau!«, hörte William ihn zu Mutter sagen. »Schau dir diese Frau an!«
William glaubte zuerst, er meine Aliena, aber von ihr war weit und breit nichts mehr zu sehen. Als er dem starren Blick des alten Hamleighs folgte, erblickte er eine Frau von ungefähr dreißig Jahren. Sie hatte nicht die gleiche sinnliche Ausstrahlung wie Aliena, zeichnete sich jedoch durch eine gewisse Ungebändigtheit und Beweglichkeit aus, die sein Interesse weckten. Sie stand neben Tom, was William zu der Annahme führte, es müsse sich wohl um die Frau des Baumeisters handeln – die gleiche also, die er ihm vor etwa einem Jahr abzukaufen versucht hatte. Aber woher kannte Vater sie?
»Ist sie das?«, fragte Vater.
In diesem Augenblick – als hätte sie seine Worte gehört – drehte die Frau sich um und schaute die Hamleighs mit ihren durchdringend blassgoldenen Augen an. »Um Gottes willen, sie ist es tatsächlich«, zischte Mutter.
Der starre Blick der Frau ging an Vater nicht spurlos vorüber: Sein gerötetes Gesicht wurde fahl, seine Hände zitterten. »Der Herr stehe uns bei«, sagte er. »Ich dachte, sie wäre längst tot!«
Und William dachte: Was, zum Teufel, hat das nun wieder zu bedeuten?
Genau das hatte Jack immer befürchtet.
Das ganze Jahr über hatte er gespürt, dass seine Mutter Tom Builder vermisste. Sie war nicht mehr so ausgeglichen wie früher; oft starrte sie verträumt in die Ferne, und nachts keuchte und stöhnte sie manchmal, als ob sie davon träumte oder sich einbildete, mit Tom zu schlafen. Die ganze Zeit über war Jack sich darüber im Klaren gewesen, dass Ellen zu Tom zurückkehren würde. Und nun hatte sie eingewilligt, bei ihm zu bleiben.
Die bloße Vorstellung war ihm verhasst.
Sie waren stets glücklich zusammen gewesen: Er liebte seine Mutter, und seine Mutter liebte ihn, und niemand mischte sich ein.
Das Leben im Wald war ein bisschen fade, das war schon richtig. Jack gestand sich ein, dass er die vielen Menschen und das Leben in den Städten, die er in der kurzen Zeit mit Toms Familie kennengelernt hatte, gelegentlich vermisste. Auch Martha fehlte ihm. Tagträumereien von der »Prinzessin« – so nannte er Aliena für sich, obwohl er ihren richtigen Namen kannte – hatten ihm die Langeweile des Waldlebens versüßt. Es hatte durchaus etwas für sich, mit Tom zusammenzuarbeiten und das Baumeisterhandwerk zu erlernen – nur: Mit seiner Freiheit war es dann vorbei. Sie werden mir Vorschriften machen, dachte er, und ich muss arbeiten, ob ich nun will oder nicht. Und ich muss Mutter mit allen anderen teilen.
Er saß auf einem Mäuerchen neben dem Klostertor, überlegte und überlegte und kam zu keinem festen Schluss, und plötzlich entdeckte er zu seinem grenzenlosen Erstaunen die Prinzessin.
Er blinzelte. Sie drängte sich durch die Menschenmenge und strebte dem Tor zu. In jenen Tagen hatte sich unter ihren kostbaren Kleidern ein sinnlich-runder Mädchenkörper verborgen. Inzwischen war sie schlanker und wirkte viel erwachsener. Das durchgeschwitzte Leinenkleid klebte ihr am Körper, deutlich zeichneten sich ihre vollen Brüste, die Rippen, der flache Bauch, die schmalen Hüften und die langen Beine ab. Ihr Gesicht war schmutzverschmiert, der Lockenkranz unordentlich. Irgendetwas musste die Prinzessin aus der Fassung gebracht haben; sie wirkte verängstigt und verstört. Jack war vollständig in ihren Bann geschlagen und verspürte auf einmal eine merkwürdige Regung in der Lendengegend, die ihm bisher völlig unbekannt gewesen war.
Er folgte der Prinzessin. Es war keine bewusste Entscheidung. Eben hatte er noch auf der Mauer gesessen und sie mit offenem Mund angestarrt – und nun rannte er auch schon hinter ihr her. Draußen auf der Straße holte er sie ein. Sie roch wie jemand, der harte körperliche Arbeit verrichtet hat. Er erinnerte sich daran, dass sie damals immer nach Blumen geduftet hatte. »Stimmt etwas nicht?«, fragte er.
»Nein, es ist alles in Ordnung«, erwiderte Aliena kurz angebunden und beschleunigte ihre Schritte.
Jack ließ sich nicht abschütteln. »Ihr erinnert Euch nicht an mich. Als wir uns das letzte Mal gesehen haben, habt Ihr mir erklärt, wie Kinder gezeugt
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