Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
Bischof Walerans ursprünglicher Einschätzung der Lage war nichts auszusetzen: Es stimmte ja, dass Philip knapp bei Kasse war und die Kathedrale in Kingsbridge nur unter den größten Schwierigkeiten würde errichten können. Dennoch hatte dieser listige Mönch verbissen weitergemacht, einen Baumeister angeheuert, mit dem Bau begonnen und mir nichts, dir nichts, nur um Bischof Henry aus dem Konzept zu bringen, ein Heer von Arbeitern zusammengezogen. Und das hatte seinen Eindruck auf Henry natürlich nicht verfehlt – allein schon deshalb, weil Bischof Waleran die Lage zuvor in den düstersten Farben geschildert hatte.
Dieser verfluchte Mönch wusste ganz genau, dass er den Sieg davongetragen hatte. Es fiel ihm sichtlich schwer, sein siegesgewisses Grinsen zu verbergen. Im Augenblick war er in ein Gespräch mit Bischof Henry vertieft und unterhielt sich angeregt über verschiedene Schafrassen und den Wollpreis. Henry hörte aufmerksam, ja beinahe respektvoll zu, während Williams Eltern, die weit bedeutender als dieser einfache Prior waren, rücksichtslos übergangen wurden.
Der Kerl wird diesen Tag noch bereuen, dachte William. Niemand darf die Hamleighs ungestraft zum Narren halten! Wir haben unseren heutigen Rang nicht dadurch erreicht, dass wir uns von hergelaufenen Mönchen übers Ohr hauen ließen. Bartholomäus von Shiring hat die Hamleighs beleidigt und ist dafür als Verräter im Gefängnis gestorben. Philip wird es nicht besser ergehen.
Auch Tom Builder schwor William Hamleigh insgeheim Rache. Nie hatte er vergessen, wie Tom ihm in Durstead Paroli geboten, sein Pferd festgehalten und ihn gezwungen hatte, die Arbeiter auszubezahlen. Heute, so dachte William voller Ingrimm, hat er mich respektlos mit »junger Lord William« angesprochen. Offensichtlich steckt er mit Philip unter einer Decke und baut jetzt Kathedralen anstelle von herrschaftlichen Häusern. Er wird noch zu spüren bekommen, dass er sich besser auf Gedeih und Verderb den Hamleighs ausgeliefert hätte, statt sich mit ihren Feinden zu verbünden!
So verzehrte sich William in stiller Wut, bis Bischof Henry sich erhob und verkündete, er sei nun bereit für den Gottesdienst. Auf einen Wink des Priors sprang ein Novize auf und verließ eilends den Raum. Wenig später erklang das Glockenzeichen.
Alle machten sich auf den Weg, Bischof Henry an der Spitze, Bischof Waleran als Zweiter, dann Prior Philip und zuletzt die Laien. Die Mönche warteten draußen und fügten sich hinter Philip in die Prozession ein. Die Hamleighs bildeten notgedrungen die Nachhut.
Die Freiwilligen saßen auf Mauern und Dächern und füllten die gesamte Westhälfte des Klosterhofes. Henry bestieg eine mitten auf der Baustelle errichtete Plattform. Die Mönche nahmen hinter ihm Aufstellung, im zukünftigen Chor der Kathedrale. Die Hamleighs sowie die bischöfliche Entourage begaben sich ins künftige Mittelschiff.
Als sie dort Platz nahmen, entdeckte William Aliena.
Die junge Frau hatte sich sehr verändert. Sie trug grobe, billige Kleidung und Holzschuhe, und die Lockenpracht, die ihr Gesicht einrahmte, war schweißnass. Aber sie war es, das stand außer Frage, und ihre Schönheit verschlug ihm den Atem. Er konnte den Blick nicht von ihr wenden, nicht einmal, als der Gottesdienst seinen Lauf nahm und das Klostergelände von einem aus tausend Kehlen kommenden Vaterunser widerhallte.
Sie schien zu spüren, dass sie beobachtet wurde, wirkte unruhig, trat von einem Bein aufs andere und sah sich schließlich suchend um. Endlich kreuzten sich ihre Blicke. Entsetzen zeichnete ihre Miene; obwohl bestimmt zehn Schritte oder mehr zwischen ihnen lagen und Dutzende von Menschen sie trennten, fuhr sie zusammen und schreckte zurück. In ihrer Angst war sie für William nur noch begehrenswerter, und er spürte seinen Körper reagieren wie schon seit einem Jahr nicht mehr. Doch in sein Begehren mischte sich Ablehnung; er hasste es, dass sie ihn wieder in ihren Bann zog. Aliena errötete und senkte den Blick; es war, als schäme sie sich. Sie wechselte ein paar Worte mit einem Jungen, der neben ihr stand – natürlich, ihr Bruder, dachte William, dessen erotisches Gedächtnis sich auch an dieses Gesicht erinnerte –, machte kehrt und tauchte in der Menge unter.
William fühlte sich betrogen. Er war versucht, ihr zu folgen, aber das war unmöglich, nicht mitten im Gottesdienst und nicht unter den Augen seiner Eltern, zweier Bischöfe, vierzig Mönche und tausend Gläubiger.
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