Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
der grauen Klostermauer und beanspruchten das gesamte Areal zwischen Priorei und Fluss. Auch auf dem Prioreigelände waren neue Steingebäude entstanden, und die Mauern der Kirche schienen rasch in die Höhe zu wachsen. Am Flussufer gab es zwei neue Anlegeplätze. Aus Kingsbridge war eine richtige Stadt geworden.
Das äußere Erscheinungsbild dieser Ortschaft nährte einen Verdacht in ihm, der seit seiner Rückkehr aus dem Krieg immer stärker geworden war. Auf seiner Rundreise durch die Grafschaft, auf der er rückständige Pachten eingetrieben und unbotmäßige Leibeigene terrorisiert hatte, war immer wieder der Name Kingsbridge gefallen. Junge Männer ohne Landbesitz fanden dort Arbeit; wohlhabende Familien schickten ihre Söhne in der Priorei zur Schule; Kleinbauern verkauften den Bauarbeitern Eier und Käse; und alle Welt begab sich, wenn möglich, an jedem Heiligentag nach Kingsbridge, obwohl die Kathedrale noch gar nicht stand. Heute war ein solcher Heiligentag – Michaeli – der dieses Jahr auf einen Sonntag fiel. Das Reisewetter war gut an diesem milden Frühherbstmorgen, sodass mit einer großen Menschenmenge zu rechnen war. William wollte herausfinden, was sie nach Kingsbridge zog.
Er ritt in Begleitung seiner fünf Gefolgsleute, die auf den Dörfern erstklassige Arbeit geleistet hatten. Die Nachricht von Williams Inspektion hatte sich wie ein Lauffeuer verbreitet, und nach wenigen Tagen wussten die Leute, was sie von ihm zu erwarten hatten. Sobald er im Anzug war, schickten sie alle Kinder und jungen Frauen in die Wälder. William machte es Spaß, den Leuten Angst einzujagen: Das wies sie gebührend in ihre Schranken. Und mittlerweile wussten sie nur zu gut, was es hieß, dass er das Sagen hatte!
Als sie sich der Stadt näherten, spornte William sein Pferd zum Trab an, und sein Gefolge setzte ihm nach. Mit Volltempo irgendwo einzureiten, machte immer großen Eindruck auf die Leute, die sich oft nur mit einem Satz zur Seite vor den gewaltigen Schlachtrössern retten konnten oder nach allen Seiten in die Felder flüchteten.
Mit ohrenbetäubendem Hufgetrappel ging es über die Holzbrücke, vorbei am Mauthaus, das sie samt Zöllner links liegen ließen, doch versperrte ihnen ein mit Kalkfässern beladener, von zwei riesigen, langsam dahintrottenden Ochsen gezogener Karren den Weg, sodass sie ihre Pferde heftig am Zügel nehmen mussten.
Im Schritt ging es nun hinter dem Ochsenkarren her, und William hatte Muße, sich umzusehen. Neue, eiligst gebaute Häuser füllten die Lücken zwischen den alten Gebäuden. Er entdeckte eine Garküche, ein Wirtshaus, eine Schmiede und einen Schuster. Der sichtliche Wohlstand ließ William vor Neid erblassen.
Allerdings war kaum jemand auf der Straße zu sehen. Vielleicht waren sie alle oben in der Priorei.
Gefolgt von seinen Rittern, ritt er hinter dem Ochsenkarren durch das Klostertor – ganz und gar kein Einzug, wie William ihn liebte! Einen Moment lang befürchtete er schon heftig, die Leute hätten ihn dabei beobachtet und lachten ihn nun aus, aber glücklicherweise sah niemand zu ihnen her.
Im Gegensatz zur menschenleeren Stadt außerhalb der Mauern ging es auf dem Klostergelände zu wie in einem Bienenstock.
William zügelte sein Pferd und sah sich prüfend um. Die vielen Menschen und das rege Treiben verwirrten ihn zunächst, doch dann erkannte er, dass sich das Bild aus drei Teilen zusammensetzte.
In unmittelbarer Nähe am Westende des Klostergeländes fand ein Markt statt. Die Stände waren in ordentlichen Reihen aufgebaut, die von Norden nach Süden verliefen und zwischen denen sich mehrere hundert Leute tummelten, die Nahrung und Getränke, Hüte und Schuhe, Messer, Gürtel, Entenküken, Welpen, Töpfe, Ohrringe, Wolle, Garn, Seil und Dutzende anderer Gebrauchs- und Luxusgüter einkauften. Der Markt lief offensichtlich bestens, und die Penny-, Halb- und Viertelpennystücke, die ihre Besitzer wechselten, mussten ein erkleckliches Sümmchen ergeben.
Kein Wunder, dachte William erbittert, dass der Markt in Shiring auf dem absteigenden Ast ist, wenn die Konkurrenz in Kingsbridge dermaßen floriert! Die Gebühren der Standbesitzer, die Zölle für die Lieferanten und die Verkaufssteuern, die eigentlich dem Grafen von Shiring zufließen sollten, füllten statt dessen die Schatztruhen der Priorei von Kingsbridge.
Aber ein Markt bedurfte der Genehmigung des Königs, und William war sicher, dass Prior Philip keine hatte. Wahrscheinlich plante er, sich –
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