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Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth

Titel: Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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Kopf war leicht zu erkennen – dennoch war er nirgendwo zu entdecken.
    Der Junge war auf dem Klostergelände verhältnismäßig sicher, konnte aber auf Dinge stoßen, von denen Prior Philip ihn lieber ferngehalten hätte: Huren beispielsweise, die es ihren Kunden im Stehen an der Klostermauer besorgten. Eher zufällig streifte Toms suchender Blick das Baugerüst – und blieb entsetzt an einer winzigen Gestalt in einer Mönchskutte hängen, die dort oben herumbalancierte.
    Von Panik erfasst, hätte er am liebsten hinaufgerufen: Bleib stehen, sonst fällst du! Aber jedes Wort wäre im Lärm des Marktes untergegangen. Hastig schob er sich durch die Menge zur Kathedrale. Jonathan, versunken in die Scheinwelt seines Spiels, hüpfte auf dem Gerüst herum, ungeachtet der Gefahr, jeden Moment ausrutschen, fallen und achtzig Fuß tief dem sicheren Tod entgegenstürzen zu können – Tom schluckte sein Entsetzen, das gallebitter in ihm aufstieg, hinunter.
    Das Gerüst stand nicht auf dem Boden, sondern ruhte auf schweren Hölzern, die hoch oben in die Mauer eingelassen waren. Die Streben ragten etwa sechs Fuß weit hervor. Quer darüber lagen stabile, mit Tauen an den Streben befestigte Pfosten, auf denen wiederum die aus biegsamen Schößlingen und gewobenen Binsen gefertigten Gestelle ruhten. Normalerweise gelangte man über die in die dicken Mauern eingelassenen Wendeltreppen auf das Gerüst, die heute allerdings verbarrikadiert worden waren. Wie also war Jonathan nach oben gelangt? Leitern gab es keine – dafür hatte Tom Sorge getragen, und Jack hatte alles noch einmal überprüft. Der Junge musste das abgestufte Ende der Mauer hochgestiegen sein. Die Enden waren zwar, um den Aufstieg zu erschweren, mit Holzblöcken abgedichtet worden, aber Jonathan konnte ohne Weiteres daran hinaufgeklettert sein. Der Kleine war außerordentlich selbstbewusst – was aber nichts daran änderte, dass er mindestens einmal am Tag auf die Nase fiel.
    Am Fuß der Mauer blieb Tom stehen und blickte besorgt in die Höhe. Achtzig Fuß über ihm spielte Jonathan vergnügt vor sich hin. Die Angst legte sich wie eine kalte Hand um sein Herz, und er brüllte aus Leibeskräften: »Jonathan!«
    Die Leute in der Nähe schraken zusammen und folgten Toms Blick. Kaum hatten sie das Kind auf dem Gerüst erkannt, machten sie auch ihre Freunde darauf aufmerksam, sodass es schnell zu einem kleinen Auflauf kam.
    Jonathan hatte nichts gehört. Tom legte die Hände wie einen Schalltrichter vor den Mund und rief wieder: »Jonathan! Jonathan!«
    Diesmal war es durchgedrungen. Das Kind sah hinab, erblickte Tom und winkte ihm zu.
    »Komm da runter!«, schrie Tom.
    Jonathan schien bereit zu gehorchen, doch da fiel sein Blick auf die Wand und die steilen Stufen vor ihm, und er verlor den Mut. »Ich kann nicht!«, rief er mit seinem hohen Stimmchen, das bis hinunter zu hören war.
    Tom sah ein, dass er selbst hinaufklettern und den Jungen holen musste. »Bleib, wo du bist, bis ich bei dir bin!«, rief er hinauf. Er schob die Holzblöcke von den unteren Stufen und bestieg die Mauer.
    Sie war anfangs gute vier Fuß breit, wurde aber mit zunehmender Höhe immer schmaler. Tom nahm eine Stufe nach der anderen. Am liebsten wäre er nach oben gestürmt, zwang sich aber, besonnen vorzugehen. Er warf einen Blick in die Höhe und sah, dass Jonathan am Rand des Gerüsts saß und seine kurzen Beinchen über den Abgrund baumeln ließ.
    Ganz oben war die Mauer nur noch zwei Fuß breit und bot, wenn man wie Tom starke Nerven hatte, immer noch genügend Platz zum Gehen. Er schritt auf der Mauer entlang, sprang auf das Gerüst und schloss Jonathan in die Arme. Eine Welle der Erleichterung überflutete ihn. »Du dummer Junge«, sagte er, aber seine Stimme klang liebevoll, und Jonathan schmiegte sich an ihn.
    Als er wieder hinabschaute, bemerkte er, dass sich hundert oder mehr Menschen die Hälse nach ihnen verrenkten. Wahrscheinlich hielten sie seinen Balanceakt, wie zuvor die Bärenhatz, für eine der Attraktionen des Jahrmarktes. »Also gut«, meinte Tom an Jonathan gerichtet, »dann lass uns mit dem Abstieg beginnen.« Er ließ den Jungen auf die Mauer nieder und sagte: »Ich bleibe dicht hinter dir, du brauchst dir also keine Sorgen zu machen.«
    Doch Jonathan ließ sich nicht so leicht überzeugen. »Ich habe Angst«, sagte er. Er reckte Tom die Ärmchen entgegen und brach in Tränen aus, als dieser ihn nicht sofort hochhob.
    »Na schön, dann trage ich dich eben«, sagte

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