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Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth

Titel: Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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die Tür war zwar nicht mehr zu sehen, aber auch noch kein Ende der Treppe in Sicht –, da beschlich sie ein merkwürdiges Gefühl, als winde sich die Treppe endlos bis in den Himmel hinein. Dann erblickte sie Tageslicht, das durch einen schmalen Schlitz in der Turmmauer fiel und die Stufen erhellte. Schließlich trat sie auf die breite Empore über dem Seitenschiff hinaus, die nach außen fensterlos war, nach innen aber den Blick auf die ungedeckte Kirche freigab. Sie machte es sich auf der Brüstung an einem Innenbogen bequem und lehnte sich gegen den Pfeiler. Der kalte Stein an ihrer Wange tat gut. Ob Jack ihn wohl bearbeitet hatte? Und dann plötzlich, aus dem Nichts, der Gedanke, dass sie sich von hier oben zu Tode stürzen könnte. Aber es war nicht wirklich hoch genug; womöglich brach sie sich nur die Knochen und musste dann unter Schmerzen dort unten liegen, bis die Mönche kamen und sie fanden.
    Sie beschloss, zum Lichtgaden hinaufzusteigen, und kehrte zur Wendeltreppe zurück. Diesmal hatte sie nicht so weit zu klettern, fand es aber doch beängstigend, und als sie oben ankam, schlug ihr das Herz bis zum Halse. Sie betrat den Umlauf, ein schmaler Tunnel in der Wand, und tastete sich Schritt für Schritt voran, bis sie die Sohlbank eines der Zwillingsfenster erreichte, wo sie am Mittelpfeiler, der es unterteilte, Halt fand. Von hier fiel ihr Blick fünfundsiebzig Fuß ins Bodenlose, und unwillkürlich begann sie zu zittern.
    Von der Wendeltreppe her erklangen Schritte. Alienas Atem ging plötzlich stoßweise, als wäre sie gerannt. Es war doch weit und breit niemand in Sicht gewesen! War ihr jemand gefolgt und versuchte nun, sich an sie heranzuschleichen? Jetzt kamen die Schritte aus dem dunklen Umlauf im Lichtgaden. Aliena ließ den Pfeiler los und stand unsicher schwankend am Rande des Abgrunds. Dann tauchte ein Gesicht ins Licht über der Sohlbank: Jack. Ihr Herz schlug so laut, dass es ihr in den Ohren dröhnte.
    »Was machst du denn hier?«, fragte er langsam.
    »Ich … ich wollte nur mal sehen, was deine Kathedrale für Fortschritte macht.«
    Er wies auf das Kapitell über ihr. »Das habe ich gemacht.«
    Sie sah hinauf. Der Stein stellte einen Mann dar, der das ganze Gewicht des Bogens auf seinem Rücken zu tragen schien, den Körper wie unter Schmerzen verkrümmt. Aliena betrachtete ihn lange. So etwas hatte sie noch nie zuvor gesehen. Ohne nachzudenken, sagte sie: »Genauso fühle ich mich auch.«
    Als sie sich ihm zuwandte, stand er neben ihr und ergriff sie behutsam, aber fest am Arm. »Ich weiß«, sagte er.
    Sie sah in die Tiefe. Die Vorstellung, aus dieser Höhe abzustürzen, machte sie krank vor Angst. Jack zog sie am Arm, und sie ließ sich von ihm zur Treppe zurückführen.
    Unten angekommen, fühlte sich Aliena ganz schwach in den Knien. Jack drehte sich zu ihr um und sagte im Plauderton: »Ich habe im Kreuzgang gelesen, und als ich aufblickte, sah ich dich im Lichtgaden stehen.«
    Sie musterte sein jungenhaftes Gesicht, in dem sich Sorge und Zärtlichkeit spiegelten, und ihr fiel wieder ein, weshalb sie einfach losgegangen war und hier Zuflucht gesucht hatte. Sie sehnte sich danach, ihn zu küssen, und entdeckte die gleiche Sehnsucht in seinen Augen. Jede Faser ihres Körpers forderte sie auf, sich in seine Arme zu stürzen, aber sie wusste nun, was sie zu tun hatte. Wie gern hätte sie ihm erklärt: Meine Liebe zu dir ist wie ein Sturm, wie eine Löwin, wie ohnmächtige Wut  – doch statt dessen sagte sie: »Ich glaube, ich werde Alfred heiraten.«
    Wie vor den Kopf geschlagen, starrte er ihr ins Gesicht. Dann malte sich Trauer in seinen Zügen, eine uralte, weise Traurigkeit, die ihn reifer erschienen ließ, als seinen Jahren angemessen war. Sie dachte schon, er würde zu weinen anfangen, aber er tat es nicht. Statt dessen blitzte Zorn in seinen Augen auf. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, besann sich, zögerte und sprach es endlich doch aus.
    Mit einer Stimme so kalt wie der Nordwind sagte er: »Du hättest besser daran getan, aus dem Lichtgaden zu springen.«
    Er ließ sie stehen und ging ins Kloster zurück.
    Ich habe ihn auf ewig verloren, dachte Aliena, und ihr war, als müsse ihr das Herz brechen.
    +++
    Jack hatte sich am Erntedankfest aus dem Kloster geschlichen. Das allein galt an sich nicht als schwerwiegendes Vergehen, aber die Tatsache, dass es nicht zum ersten Mal vorgekommen und er überdies noch im Gespräch mit einer unverheirateten Frau gesehen worden war,

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