Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
ließ die Angelegenheit in einem strengeren Licht erscheinen. Seine Übertretung kam am darauffolgenden Tag im Kapitel zur Sprache, und man beschloss, ihn unter Hausarrest zu stellen; er durfte sich also nur in den Klostergebäuden, im Kreuzgang und in der Krypta aufhalten und nur in Begleitung eines Mönchs von einem Gebäude zum anderen gehen. Er nahm es kaum zur Kenntnis. Alienas Ankündigung hatte ihn dermaßen mitgenommen, dass alles andere dagegen verblasste.
Dass er an der Kathedrale arbeitete, kam natürlich überhaupt nicht in Frage, aber seitdem Alfred dort das Kommando übernommen hatte, machte es ihm sowieso kaum noch Freude. Nun verbrachte er die freien Nachmittage mit Lesen. In Latein hatte er enorme Fortschritte gemacht und konnte, auch wenn es noch langsam ging, mittlerweile alles lesen, was ihm unter die Hände kam; und da die Lektüre zu nichts anderem dienen sollte, als seine Lateinkenntnisse zu verbessern, durfte er unter den Folianten seine eigene Wahl treffen. Und so klein die Bibliothek auch war, so verfügte sie doch über etliche philosophische und mathematische Werke, auf die Jack sich nun mit Feuereifer stürzte.
Viel von dem, was er las, war enttäuschend: seitenweise Genealogien, eintönige Berichte über die Wundertaten längst verstorbener Heiliger und endlose theologische Spekulationen. Das erste Werk, das ihn wirklich interessierte, war die Geschichte der Welt, von ihrer Erschaffung bis zur Gründung des Klosters in Kingsbridge, und nach Beendigung der Lektüre hatte er das Gefühl, nunmehr über alles, was sich jemals ereignet hatte, gründlich Bescheid zu wissen. Doch nach einer Weile ging ihm auf, dass das Buch dem selbst gestellten Anspruch, von sämtlichen Ereignissen zu berichten, nicht standhielt, denn schließlich trug sich überall – nicht nur in Kingsbridge und England, sondern auch in der Normandie, im Anjou, in Paris und in Rom, in Äthiopien und in Jerusalem – ständig irgendetwas zu; der Verfasser musste also etliche Begebnisse ausgelassen haben. Trotzdem vermittelte das Werk Jack ein bis dahin unbekanntes Gefühl: dass die Vergangenheit einer Geschichte glich, in der eine Handlung die nächste bedingte, und dass die Welt kein grenzenloses Mysterium mehr, sondern ein endliches Etwas war, das sich begreifen ließ.
Die Rätsel waren noch faszinierender. Ein Philosoph stellte die Frage, warum ein schwacher Mann einen schweren Stein mit einer Brechstange bewegen kann. Darüber hatte Jack sich bisher noch nie Gedanken gemacht, aber nun ließ es ihn nicht mehr los. Einmal hatte er mehrere Wochen im Steinbruch verbracht und konnte sich noch gut erinnern, dass ein Stein, der nicht mit einer ein Fuß langen Brechstange bewegt werden konnte, gewöhnlich auf eine zwei Fuß lange Brechstange ansprach. Wie kam es, dass ein und derselbe Mann den Stein nicht mit dem kurzen, dafür aber mit dem langen Hebel bewegen konnte? Eine Frage führte zur nächsten. Die Dombauleute benutzten eine riesige Winde, um große Quader und Holz aufs Dach hinaufzuhieven. Die Last des Seils war für die bloßen Hände eines Mannes viel zu schwer, doch das Rad, mit dem das Seil eingeholt wurde, konnte er allein und ohne Hilfe drehen, und die Last wurde nach oben befördert. Wie war so etwas möglich?
Solche und ähnliche Spekulationen lenkten ihn eine Zeit lang ab, aber immer wieder kehrten seine Gedanken zu Aliena zurück. Oft genug stand er im Kreuzgang, vor sich auf dem Lesepult einen schweren Folianten, und ließ jenen Morgen in der alten Mühle, als er sie geküsst hatte, vor seinem geistigen Auge erneut ablaufen. Jede Einzelheit war ihm noch in Erinnerung, von der ersten sanften Berührung der Lippen bis zu der erregenden Empfindung, ihre Zunge in seinem Mund zu spüren. Er hatte sich eng an sie geschmiegt und konnte ihre Brüste und Hüften spüren. Die Erinnerung war so überwältigend, dass er beinahe glaubte, sie sei Wirklichkeit.
Was nur hatte sie so verändert? Er war nach wie vor der Überzeugung, dass der Kuss echt und Alienas darauffolgende Gefühlskälte falsch gewesen war. Er glaubte, sie zu kennen. Sie war liebevoll, sinnlich, romantisch, einfallsreich und warmherzig. Obendrein war sie noch gedankenlos und herrisch, und sie hatte gelernt, mit aller Härte zu kämpfen; aber sie war weder kalt noch grausam, und herzlos schon gar nicht. Einen Mann, den sie nicht liebte, allein wegen des Geldes zu heiraten, das passte einfach nicht zu ihr. Es würde sie nicht nur unglücklich
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