Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
denn unter der Tür drang ein schmaler Streifen Licht herein, sodass Jack die Umgebung schemenhaft ausmachen konnte. Mit den Händen tastete er sich ringsum die Wände entlang. Die Meißelspuren unter seinen Fingerspitzen sagten ihm, dass der Kerker schon vor langer Zeit gebaut worden war. Er maß ungefähr sechs Fuß im Quadrat. In einer der Decken fand sich eine Säule und ein Stück Gewölbedecke – zweifellos hatte die Zelle ursprünglich zu einem größeren Raum gehört und war später durch eine Mauer abgeteilt worden. Eine der Wände wies eine schmale Öffnung auf, beinahe wie eine Schießscharte, doch sie war fest verriegelt und wäre selbst ohne den Fensterladen auch für den Schlankesten zu eng gewesen, um sich hindurchzuzwängen. Der Steinboden fühlte sich feucht an, und Jack nahm erst jetzt das unablässige Rauschen war, aus dem er schloss, dass die Wasserrinne, die vom Mühlteich durch das Klostergelände zu den Latrinen führte, unterhalb der Zelle verlaufen musste. Das bot auch die Erklärung dafür, dass der Boden nicht nur aus gestampfter Erde bestand, sondern gemauert war.
Er fühlte sich völlig ausgelaugt. Er setzte sich auf den Boden, den Rücken gegen die Wand gelehnt, und starrte auf den schmalen Lichtstreifen unterhalb der Tür, der ihn schmerzlich daran erinnerte, wo er jetzt eigentlich sein wollte. Wie war er nur in diese Klemme geraten? Vom Kloster hatte er nie viel gehalten und nie vorgehabt, sein Leben Gott zu weihen – an den er nicht einmal wirklich glaubte. Novize war er nur geworden, um ein drängendes Problem zu lösen, um in Kingsbridge, in der Nähe all dessen, was er liebte, bleiben zu können. Er hatte sich dem Wahn hingegeben, jederzeit gehen zu können. Und nun, da er diesen Ort verlassen wollte, gelang es ihm nicht: Er war gefangen. Sobald ich hier rauskomme, drehe ich Prior Philip den Hals um, dachte er, und wenn ich dafür hängen muss!
Das brachte ihn auf einen anderen Gedanken: Wann wollten sie ihn eigentlich freilassen? Er hörte die Glocke, die zum Abendessen rief. Die kommende Nacht über werden sie mich bestimmt hierbehalten, dachte er. Wahrscheinlich beraten sie sich gerade über mich. Die unangenehmsten Mönche werden wohl die Forderung stellen, mich eine geschlagene Woche hier schmoren zu lassen – ha, ich sehe es genau vor mir, wie Pierre und Remigius nach schärfster Disziplin rufen! Aber es gibt auch andere, die mich besser leiden können, die halten vielleicht eine Nacht im Kerker für Strafe genug …
Was Philip wohl sagen würde? Er mochte Jack, war jetzt aber zweifellos sehr böse auf ihn, besonders nach der in der Wut hervorgestoßenen Bemerkung: Ihr seid ein Esel, aber nicht mein Oberer! In meinen Augen seid Ihr eine Null! Philip mochte durchaus versucht sein, jene, die mit harten Strafen stets schnell bei der Hand waren, gewähren zu lassen. Jacks einzige Hoffnung bestand darin, dass sie seinen sofortigen Hinauswurf aus dem Kloster fordern würden, die härteste Strafe, die sie sich denken konnten. In diesem Fall gelang es ihm vielleicht doch noch, vor der Hochzeit mit Aliena zu sprechen. Doch Philip wäre dagegen, kein Zweifel. Das käme in seinen Augen dem Eingeständnis einer Niederlage gleich.
Das Licht unterhalb der Tür wurde zunehmend schwächer. Draußen wurde es dunkel. Jack fragte sich, wo man als Gefangener wohl seine Notdurft verrichten sollte. Einen Topf gab es in der Zelle nicht. Es sah den Mönchen ganz und gar nicht ähnlich, gerade diesen Punkt zu übersehen: Von Reinlichkeit hielten sie viel, auch und gerade bei Sündern. Er inspizierte erneut den Fußboden, tastete ihn Stein um Stein ab und stieß schließlich auf ein Loch unweit einer Ecke. Das Wasser rauschte hier lauter, und er vermutete, dass der unterirdische Kanal direkt darunter verlief. Das musste also seine Latrine sein.
Nicht lange nach dieser Entdeckung öffnete sich plötzlich die schmale Klappe. Jack sprang auf. Eine Schüssel und ein Kanten Brot wurden auf dem Fensterbrett abgestellt, doch das Gesicht des Mannes war nicht zu erkennen. »Wer bist du?«, fragte Jack.
»Es ist mir verboten, mit dir zu reden«, leierte der Mann seine Anweisung herunter. Jack erkannte die Stimme trotzdem: Sie gehörte einem betagten Mönch namens Luke.
»Luke, haben sie gesagt, wie lange ich hier bleiben muss?«, rief Jack.
Luke wiederholte die Formel: »Es ist mir verboten, mit dir zu reden.«
»Bitte, Luke, sag’s mir, wenn du Bescheid weißt!«, flehte Jack den alten Mann
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