Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
an, und es war ihm vollkommen gleichgültig, ob er dabei wie ein Jammerlappen klang oder nicht.
Luke erwiderte flüsternd: »Pierre forderte eine Woche, aber Philip hat zwei Tage daraus gemacht.« Die Klappe fiel wieder zu.
»Zwei Tage!«, sagte Jack verzweifelt. »Aber bis dahin ist sie doch längst verheiratet!«
Er erhielt keine Antwort.
Jack stand still da und starrte ins Nichts. Das Licht, das durch den Spalt in die Zelle gedrungen war, hatte ihn so geblendet, dass er eine ganze Weile lang nichts mehr sah, bis er sich wieder an die Dunkelheit gewöhnt hatte; dann füllten sich seine Augen wiederum mit Tränen, und alles verschwamm.
Er streckte sich auf dem Boden aus. Er konnte nichts mehr unternehmen. Bis Montag saß er hinter Schloss und Riegel, und Montag war Aliena bereits Alfreds Frau und wachte in Alfreds Bett mit Alfreds Samen in sich auf … Ihm wurde schlecht bei dem Gedanken.
Bald war es stockfinster. Er tastete sich zum Fensterbrett und trank aus der Schale. Sie enthielt klares Wasser. Er nahm ein Stückchen Brot und kaute darauf herum, hatte aber keinen Hunger und brachte es kaum hinunter, daher leerte er die Schale und legte sich wieder hin.
Er fand keinen Schlaf, sondern verfiel in eine Art Dämmerzustand, in dem er, ähnlich wie in einem Traum oder einer Vision, noch einmal die Sonntagnachmittage durchlebte, an denen er Aliena die Geschichte von dem Knappen erzählt hatte, der sich aus Liebe zu seiner Prinzessin auf die Suche nach dem edelsteintragenden Rebstock macht.
Die Mitternachtsglocke riss ihn aus seinem Dämmerschlaf. Er hatte sich mittlerweile so an den klösterlichen Tagesablauf gewöhnt, dass er um Mitternacht stets hellwach war; nachmittags musste er allerdings, besonders dann, wenn er zu Mittag Fleisch gegessen hatte, oft ein Nickerchen machen. Die Mönche verließen jetzt ihre Betten und machten sich auf die Prozession vom Dormitorium zur Kirche. Sie mussten sich unmittelbar über Jack sammeln, aber er vernahm keinen einzigen Laut: Sein Kerker war schalldicht. Es schien kaum Zeit vergangen zu sein, bevor die Glocke erneut bimmelte und die Mönche zur Matutin rief. Die Zeit verging schnell, viel zu schnell; noch heute würde Aliena heiraten.
In den frühen Morgenstunden fiel er trotz seines Kummers in Schlaf.
Mit einem Ruck fuhr er hoch. Da war jemand in der Zelle!
Entsetzen erfasste ihn.
Es war stockfinster, nur das Rauschen des Wassers kam ihm lauter vor. »Wer ist da?«, fragte er mit zitternder Stimme.
»Ich bin’s – du brauchst keine Angst zu haben.«
»Mutter!« Vor Erleichterung schwanden ihm beinahe die Sinne. »Woher weißt du denn, dass ich hier bin?«
»Der alte Joseph ist zu mir gekommen und hat mir erzählt, was passiert ist«, sagte sie, ohne die Stimme zu senken.
»Nicht so laut; sonst hören dich noch die Mönche!«
»Bestimmt nicht. Hier drin kannst du singen und schreien, und niemand hört dich. Das weiß ich genau – ich habe es schließlich ausprobiert.«
Jack schossen so viele Fragen durch den Kopf, dass er gar nicht wusste, womit er beginnen sollte. »Wie bist du hier hereingekommen? Ist die Tür offen?« Mit ausgestreckten Armen tastete er sich zu ihr. »Oh – du bist ja nass!«
»Genau unter diesem Kerker verläuft der Kanal, und im Boden hier ist ein Stein locker.«
»Woher hast du das gewusst?«
»Dein Vater hat zehn Monate in dieser Zelle verbracht«, sagte sie, und die Bitterkeit, die sich in Jahren aufgestaut hatte, klang deutlich durch.
»Mein Vater? In dieser Zelle? Zehn Monate?«
»Damals hat er mir alle seine Geschichten und Lieder beigebracht.«
»Aber warum hat man ihn hier eingesperrt?«
»Wir haben es nie herausgefunden«, erwiderte sie voller Groll. »Man hat ihn in der Normandie entführt oder gefangen genommen – genau wusste er es selbst nicht – und hierher gebracht. Er konnte weder Englisch noch Latein und hatte nicht die geringste Ahnung, wo er sich befand. Etwa ein Jahr lang hat er in den Ställen gearbeitet, und dort haben wir uns kennengelernt.« Ihre Stimme wurde weich bei der Erinnerung daran. »Ich habe mich Hals über Kopf in ihn verliebt. Er war so sanftmütig und sah dermaßen verschreckt und unglücklich aus; und trotzdem sang er wie ein Vogel. Monatelang hatte kein Mensch mit ihm gesprochen. Wie er sich gefreut hat, als ich ihn auf französisch anredete! Ich glaube, er hat sich bloß deswegen in mich verliebt.« Ihre Stimme klang wieder grimmig. »Kurz darauf steckten sie ihn in diesen Kerker,
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