Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
erwachte, hatte er seinen Entschluss gefasst.
Die Diener wollten Aliena nicht in Raschid Al-Haruns Haus einlassen. Wahrscheinlich sehe ich aus wie eine Bettlerin, dachte sie, die in staubiger Tunika und abgetragenen Stiefeln vor dem Tor stand, ihr Kind auf dem Arm. »Sagt Raschid Al-Harun, dass ich seinen englischen Freund Jack Fitzjack suche«, sagte sie auf französisch, nicht wissend, ob die dunkelhäutigen Bediensteten auch nur ein Wort davon verstanden. Nach einer gemurmelten Beratung in einer ihr fremden Sprache verschwand einer der Diener, ein hochgewachsener Mann mit kohlschwarzer Haut und einem Haarschopf wie das Vlies eines schwarzen Schafs, im Haus.
Aliena trat unruhig von einem Fuß auf den anderen, wobei die verbliebenen Diener sie unverhohlen anstarrten. Nicht einmal auf dieser endlosen Wallfahrt hatte sie gelernt, sich in Geduld zu üben. Nach der Enttäuschung in Santiago de Compostela war sie der Straße gefolgt, die ins Herz Spaniens führte, nach Salamanca. Auch dort konnte sich niemand an einen rothaarigen jungen Mann erinnern, der sich für Kathedralen und Spielleute interessierte, doch ein freundlicher Mönch erzählte ihr von dem Kollegium englischer Scholaren in Toledo. Sehr vielversprechend hörte sich das nicht an, aber Toledo lag nicht mehr allzu weit entfernt, und so ritt sie weiter.
Der quälenden Enttäuschungen war kein Ende. Ja, Jack war in Toledo gewesen – welch ein Glück! –, aber leider, leider hatte er es schon wieder verlassen. Immerhin – allmählich holte sie auf: Jack war ihr nur noch einen Monat voraus. Aber wiederum wusste niemand zu sagen, wohin er sich gewandt hatte.
In Santiago hatte sie erraten können, dass er nach Süden gezogen war, denn sie selber war aus dem Osten gekommen, und sowohl im Norden wie im Westen wurde die Pilgerstadt vom Meer begrenzt. In Toledo jedoch gab es unglücklicherweise viel mehr Möglichkeiten: Jack konnte sich nach Nordosten, gen Frankreich, gewandt haben oder nach Westen, Richtung Portugal. Vielleicht war er auch nach Granada im Süden gezogen oder hatte an der spanischen Küste ein Schiff nach Rom, Tunis, Alexandria oder Beirut bestiegen.
Aliena hatte beschlossen, die Suche aufzugeben, wenn sie in Toledo keinen brauchbaren Hinweis auf Jacks nächstes Ziel erhielt. Sie war bis auf die Knochen erschöpft und endlos weit von zu Hause fort. Nur um einer schwachen Hoffnung willen den Weg fortzusetzen – dazu fühlte sie sich zu entkräftet. In diesem Fall würde sie lieber nach England zurückkehren und versuchen, Jack endgültig zu vergessen.
Ein weiterer Diener erschien. Er war besser gekleidet als der erste und sprach Aliena höflich auf französisch an: »Ihr seid eine Bekannte von Monsieur Jack?«
»Ja, eine alte Freundin aus England. Ich würde gern Raschid Al-Harun sprechen.«
Der Diener warf einen Blick auf das Kind, und Aliena fügte rasch hinzu: »Ich bin mit Jack verwandt.« Das war nicht einmal gelogen – sie war immerhin, auch wenn sie sich inzwischen entfremdet hatten, die Ehefrau von Jacks Stiefbruder, und das war gewiss eine Art Verwandtschaft.
Der Diener machte das Tor weit auf und sagte: »Wenn Ihr mir bitte folgen wollt.«
Dankbar folgte Aliena ihm. Hätte man sie hier abgewiesen, wäre ihre Suche beendet gewesen.
Zunächst ging es durch einen schönen Innenhof, vorbei an einem plätschernden Springbrunnen. Was mochte Jack dazu bewogen haben, in diesem Hause zu verkehren? Hatte er vielleicht hier unter den schattigen Arkaden gesessen und seine Versepen für Raschid Al-Harun rezitiert?
Das Haus selbst – mit seinen hohen, kühlen Räumen, seinen Fußböden aus Stein und Marmor und den wunderbar geschnitzten, üppig gepolsterten Möbeln – war fast ein Palast. Sie schritten durch zwei Torbogen und eine hölzerne Tür, und schließlich hatte Aliena das Gefühl, sich in den Frauengemächern zu befinden. Der Diener bedeutete ihr mit erhobener Hand, zu warten; dann hüstelte er leise.
Einen Augenblick später glitt eine große, schwarz gewandete Sarazenin in den Raum. Sie griff nach einem Zipfel ihres Kleides und hielt ihn sich vor den Mund – eine Geste, die in jeder Sprache der Welt eine Beleidigung war. Dann sah sie Aliena an und fragte auf französisch: »Wer bist du?«
Aliena richtete sich zu voller Größe auf. »Ich bin Lady Aliena, Tochter des verstorbenen Grafen von Shiring«, gab sie in denkbar hochmütigem Tonfall zur Antwort. »Ich nehme an, ich habe das Vergnügen, mit der Gattin des
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