Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
anders, jetzt brauchte er Sicherheit – mehr aus Sorge um Tommy als um sich selbst. Zum ersten Mal in seinem Leben trug er Verantwortung.
Aliena stellte einen Krug Wein und einen Gewürzkuchen auf den Tisch und setzte sich Jack gegenüber. Er goss sich Wein in seinen Becher und nippte dankbar daran. Aliena gab auch Tommy ein Stück Kuchen, doch der hatte keinen Hunger und zerkrümelte ihn auf dem Boden.
»Jack, ich brauche mehr Geld«, sagte Aliena.
»Ich gebe dir doch schon zwölf Pence die Woche«, erwiderte er überrascht. »Ich verdiene ja nur vierundzwanzig.«
»Tut mir leid«, sagte sie. »Du brauchst nicht so viel wie wir – du lebst schließlich allein.«
Jack fand das nicht sonderlich überzeugend. »Ein Tagelöhner hat bloß sechs Pence in der Woche – und ich kenne einige, die davon fünf oder sechs Kinder ernähren.«
Aliena sah ihn verstimmt an. »Ich weiß nicht, wie die Frauen von Tagelöhnern wirtschaften – ich habe es nicht gelernt. Und ich gebe das Geld ja auch nicht für mich aus. Aber du isst jeden Tag zu Mittag hier, und Richard ist auch noch da –«
»Wieso bittest du dann nicht Richard um Geld?«, warf Jack ärgerlich ein. »Der könnte schließlich selber für sich sorgen.«
»Das hat er noch nie müssen.«
Jack war der Meinung, es sei genug, wenn er für Aliena und Tommy zu sorgen hatte. »Ich wusste gar nicht, dass ich für Richard verantwortlich bin!«
»Bist du auch nicht, aber ich«, sagte sie ruhig. »Als du mich genommen hast, hast du ihn mit dazu bekommen.«
»Aber ohne dass ich gefragt wurde!«, gab er wütend zurück.
»Sei mir nicht böse.«
Zu spät: Jack war ihr bereits böse. »Richard ist jetzt dreiundzwanzig – zwei Jahre älter als ich. Warum soll ich für ihn aufkommen? Soll ich etwa trocken Brot essen, aber für Richard Speck kaufen?«
»Ich bin wieder schwanger.«
»Was?«
»Ich kriege wieder ein Kind.«
Jacks Zorn war wie weggeblasen, und er griff nach ihrer Hand. »Das ist ja wunderbar!«
»Freust du dich wirklich?«, fragte sie. »Ich hatte Angst, du könntest dich darüber ärgern.«
»Ärgern! Ich bin begeistert! Tommy habe ich ja erst zu Gesicht bekommen, als er schon ein Jahr alt war – jetzt kann ich das Versäumte nachholen.«
»Aber bedeutet das nicht noch mehr Verantwortung? Und was ist mit dem Geld?«
»Ach, zum Teufel mit dem Geld! Ich war bloß wieder schlechter Laune, weil wir uns nicht lieben dürfen. Das Geld wird schon reichen. Aber dass wir wieder ein Kind bekommen! Hoffentlich wird’s ein Mädchen.« Stirnrunzelnd hielt er inne. »Aber wann …?«
»Es muss passiert sein, kurz bevor uns Prior Philip die Trennung befahl.«
»Wahrscheinlich an Allerheiligen.« Er grinste. »Erinnerst du dich an diese Nacht? Du hast mich ganz schön hergenommen –«
»Ich weiß«, fiel sie ihm errötend ins Wort.
Liebevoll sah er sie an. »Ich wünschte, wir könnten es jetzt gleich wieder tun.«
Sie lächelte. »Das wäre schön.«
Ihre Hände fassten sich auf dem Küchentisch und blieben ineinander verschlungen liegen.
Da platzte Richard herein.
Erhitzt und staubig, führte er sein verschwitztes Ross in die Stube. »Schlechte Nachrichten«, keuchte er.
Aliena hob schnell Tommy vom Boden, damit er dem Gaul nicht zwischen die Hufe geriet. »Was ist los?«, erkundigte sich Jack.
»Wir müssen morgen alle aus Kingsbridge fort«, antwortete Richard.
»Warum denn?«
»William Hamleigh will die Stadt am Sonntag noch einmal brandschatzen.«
»O nein!«, entfuhr es Aliena.
Jack lief es kalt über den Rücken. Sofort hatte er wieder die Szene vor Augen, wie damals, vor drei Jahren, William mit seinen Berittenen eingefallen war, mit Keulen und lodernden Fackeln. Die Panik, die Entsetzensschreie, der Geruch des Todes! Das Bild seines Stiefvaters hatte sich ihm auf ewig eingeprägt, wie er ihn mit zerschmetterter Stirn gefunden hatte. Das Herz wurde ihm schwer.
»Woher weißt du das?«, fragte er Richard.
»In Shiring habe ich gesehen, wie Williams Mannen sich beim Waffenschmied versorgten.«
»Das heißt aber noch nicht –«
»Das war noch nicht alles. Ich bin ihnen in die Schenke gefolgt und habe gelauscht. Einer erkundigte sich nach den Verteidigungsmöglichkeiten von Kingsbridge, und ein anderer sagte ihm, es gäbe keine.«
»O mein Gott, es ist also wahr!«, stöhnte Aliena. Ihr Blick fiel auf Tommy, und instinktiv legte sie die Hand auf ihren Bauch, in dem das neue Kind wuchs. Sie sah auf und direkt in Jacks Augen.
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