Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
hatte wissen lassen. Und nun freute man sich mit ihr, dass sie endlich den Mann heiraten konnte, dem sie schon so lange in Liebe verbunden war. Am Arm ihres Bruders Richard schritt Aliena durch die Straßen, freudetrunken und ganz verwirrt von den vielen lächelnden Gesichtern um sie herum.
Am Tag nach der Hochzeit wollte Richard seine Reise ins Heilige Land antreten. König Stephan hatte diese Lösung akzeptiert – er schien heilfroh darüber zu sein, dass er Richard so leicht loswurde. Vogt William tobte – kein Wunder, hatte er doch sein Ziel, Richard die Grafschaft wieder abzujagen, verfehlt. In Richards Augen lag noch immer jener abwesende Blick: Er konnte es gar nicht abwarten, endlich fortzukommen.
So hat sich Vater die Zukunft von Earlscastle gewiss nicht vorgestellt, dachte Aliena, als sie das Klostergelände betrat – Richard als Soldat in der Ferne und ich in der Rolle der Gräfin auf der Burg … Doch sie fühlte sich längst nicht mehr verpflichtet, ihr Leben nach den Wünschen ihres Vaters zu gestalten. Er war nun seit siebzehn Jahren tot und hätte gewiss nicht begriffen, was ihr inzwischen vollkommen klar war: dass sie, Aliena, weit eher zum Regieren taugte als Richard.
Sie hatte die Zügel der Macht bereits in die Hand genommen. Die Diener und das übrige Personal auf der Burg waren in den Jahren unzureichender Führung faul und träge geworden; Aliena hatte sie rasch wieder auf Trab gebracht. Sie hatte die Lager auf- und umräumen, den großen Saal streichen sowie das Backhaus und die Brauerei säubern lassen. Die Küche war so verlottert und verdreckt gewesen, dass Aliena sie niederbrennen und eine neue errichten ließ. Die wöchentlichen Löhne zahlte sie persönlich aus und gab damit allen zu verstehen, wer jetzt das Sagen hatte. Drei Bewaffnete waren von ihr wegen Trunkenheit entlassen worden.
Auch den Bau einer neuen Burg hatte Aliena bereits in die Wege geleitet. Der Bauplatz war zu Pferd in einer Stunde erreichbar. Earlscastle lag zu weit entfernt von der Kathedrale; Jack hatte einen Bauplan gezeichnet. Sobald der Wohnturm stand, wollten sie einziehen. Bis dahin gedachten sie, ihre Zeit zwischen Earlscastle und Kingsbridge aufzuteilen.
Fernab von Philips missbilligenden Blicken hatten sie auch schon einige gemeinsame Nächte in Alienas ehemaligem Schlafgemach verbracht. Wie Jungverheiratete auf der Hochzeitsreise hatten sie sich gefühlt und sich fortreißen lassen von schier unersättlicher Leidenschaft, die möglicherweise daher rührte, dass sie zum ersten Mal in ihrem Leben in einem von innen verschließbaren Raum zusammen waren. Ungestörtheit war ein Luxus des Adels: Das Fußvolk schlief (und liebte sich) in der großen Halle. Selbst Eheleute, die ein Haus besaßen, mussten ständig damit rechnen, von ihren Kindern, Verwandten oder Nachbarn überrascht zu werden. Man verschloss die Türen, wenn man fortging, nicht wenn man zu Hause war. Aliena hatte sich nie daran gestört – doch nun hatte sie den besonderen Reiz entdeckt, der in dem Bewusstsein lag, alles tun und lassen zu können, was man wollte, ohne dabei beobachtet zu werden. Als sie daran dachte, was sie und Jack in den vergangenen zwei Wochen alles miteinander getrieben hatten, errötete sie unwillkürlich.
Jack wartete auf sie im halb fertigen Schiff der neuen Kathedrale; bei ihm waren Martha, Tommy und Sally. Das Ehegelübde sprach man gemeinhin vor der feierlichen Messe im Portal der Kirche. In diesem Fall war man davon abgewichen: Als »Portal« diente der erste Bauabschnitt des Kirchenschiffs. Aliena war sehr glücklich, dass sie in der Kirche, die Jack errichtete, heiraten konnten. Die Kathedrale gehörte zu Jack wie seine Kleider und sein Liebesspiel. Man sah schon, dass sie ihm eines Tages ähneln würde – anmutig würde sie sein, freundlich, ideenreich, so ganz anders als alles, was es vorher gegeben hatte.
Voller Liebe sah Aliena ihren Jack an. Er war jetzt dreißig Jahre alt, ein ungemein gut aussehender Mann mit seiner roten Mähne und den funkelnden blauen Augen. Und wie hässlich er als Junge gewesen war! Sie hatte es damals, bei ihrer ersten Begegnung, für unter ihrer Würde gehalten, ihn auch nur zu beachten. Jack hingegen meinte, er habe sich auf Anhieb unsterblich in sie verliebt. Noch heute zuckte Aliena zusammen, wenn sie daran dachte, wie sie und die anderen Kinder Jack wegen seiner Behauptung, er habe keinen Vater, verlacht hatten. Das war jetzt fast zwanzig Jahre her. Zwanzig
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