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Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth

Titel: Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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gemacht wurde – ein buntes Fenster konnte doch nicht viel anders aussehen als ein Wandteppich oder ein Gemälde. Jetzt begriff er, was die Leute so begeisterte: Das Licht, das von außen durch die bunten Scheiben fiel, brachte die Farben zum Leuchten und rief eine geradezu magische Stimmung hervor. Die Kirche war voller Menschen, und alle reckten die Hälse nach den wundersamen Fenstern, auf denen Szenen aus der Heiligen Schrift, Himmel und Hölle, Heilige, Propheten und Jünger dargestellt waren – sowie einige Bürger von Kingsbridge, die vermutlich das betreffende Fenster bezahlt hatten: ein Bäcker mit einem Tablett voller Brotlaibe, ein Gerber mit seinen Häuten, ein Steinmetz mit Zirkel und Wasserwaage … Ich gehe jede Wette ein, dass Philip beim Verkauf der Fenster einen dicken Gewinn gemacht hat, dachte William voller Ingrimm.
    Die Kirche war inzwischen bis auf den letzten Platz besetzt. Die Ostermesse stand bevor. Hier und da griff der Markt auf die Kirche über: William wurden kurz hintereinander kaltes Bier, Lebkuchen und für drei Pennys ein kurzes Liebesvergnügen vor der Kirchenwand angeboten. Der Klerus versuchte immer wieder, die Kleinhändler und Huren aus der Kirche fernzuhalten, doch hatte sich diese Aufgabe längst als unlösbar erwiesen. William grüßte alle Leute von Rang und Namen oder erwiderte deren Gruß, doch schweifte sein Blick allen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ablenkungen zum Trotz immer wieder ab, wurde von den aufwärtsstrebenden Linien der Arkade emporgezwungen. Bogen und Fenster, die Pfeiler mit ihren gebündelten Diensten, die Rippen und Segmente des Gewölbes – alles strebte nach oben, himmelwärts, als stete, unausweichliche Erinnerung an den ureigenen Zweck des Gebäudes.
    Der Boden war gepflastert, die Pfeiler waren bemalt und jedes Fenster verglast: Kingsbridge und seine Priorei waren reich, und die Kathedrale kündete von ihrem Wohlstand. Goldene Leuchter und juwelenbesetzte Kruzifixe schmückten die kleinen Seitenkapellen im Querschiff. Auch die Bürger der Stadt hielten mit ihrem Reichtum nicht hinter dem Berge: Sie trugen farbenprächtige Tuniken, silberne Spangen und Schnallen und goldene Ringe.
    William entdeckte Aliena.
    Wie immer bei ihrem Anblick stockte ihm das Herz. Sie musste inzwischen über fünfzig sein – und war noch immer schön wie eh und je. Noch immer hatte sie einen dichten Lockenschopf. Allerdings trug sie die Haare inzwischen etwas kürzer; sie waren auch von etwas hellerem Braun als früher, so als ob sie ein wenig ausgeblichen wären. In ihren Augenwinkeln zeigten sich attraktive Fältchen. Aliena war, obwohl inzwischen ein wenig fülliger, noch immer eine sehr begehrenswerte Frau. Sie trug einen blauen, mit roter Seide gesäumten Mantel und rote Lederschuhe und war von einer ehrerbietigen Menge umringt. Obgleich sie keine echte Gräfin war, sondern nur die Schwester eines Grafen, der sich im Heiligen Land niedergelassen hatte, wäre niemand auf den Gedanken gekommen, ihr die Reverenz, die einer Gräfin zustand, zu verweigern. Ihr Auftritt glich dem einer Königin.
    Wie Galle brannte der Hass in Williams Magen, als er ihrer ansichtig wurde. Er hatte ihren Vater erledigt und sie selbst vergewaltigt; er hatte ihre Burg erobert, ihre Wolle verbrannt und ihren Bruder ins Exil gezwungen, doch jedes Mal, wenn er glaubte, ihr den Rest gegeben zu haben, erholte sie sich von ihrer Niederlage und stieg empor zu neuen Höhen der Macht und des Wohlstands. William, fett geworden und gichtig und das Alter spürend, erkannte, dass sein ganzes Leben von einem furchtbaren Zauber beherrscht worden war.
    Neben Aliena stand ein hochgewachsener Mann, den William im ersten Moment für Jack hielt. Bei näherer Betrachtung zeigte sich jedoch, dass der Mann zu jung war; es musste sich also um Jacks Sohn handeln. Er war wie ein Ritter gekleidet und trug ein Schwert. Jack selbst stand neben seinem Sohn, der ihn um ein oder zwei Zoll überragte. Sein rotes Haar lichtete sich an den Schläfen. Wenn William sein Gedächtnis nicht trog, war der Mann jünger als seine Frau, um die fünf Jahre gar, doch waren auch seine Augen schon von feinen Linien umgeben. Er unterhielt sich angeregt mit einer jungen Frau – offensichtlich seiner Tochter. Sie ähnelte Aliena und war genauso hübsch wie sie, trug jedoch ihr reiches Haar streng zurückgekämmt und zu Zöpfen geflochten. Ihre Kleidung war recht unauffällig. Falls sich ein sinnlicher Körper unter der

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