Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
vor?«
»Ich werde ihn vor einem kirchlichen Gericht anklagen«, antwortete Waleran.
Das war allerdings bemerkenswert. Niemand, der Philip kannte, hätte Walerans Anschuldigung auch nur einen Funken Glauben geschenkt. Bei einem Richter aus der Fremde lag die Sache schon anders. Widerstrebend sah William ein, dass die Idee doch nicht so dumm war, wie er zunächst angenommen hatte. Der Bischof, das zeigte sich einmal mehr, war weit raffinierter als er. Die plötzliche Aussicht, Philip doch noch zu Fall zu bringen, versetzte William in Begeisterung. »Bei Gott«, sagte er, »lässt sich da wirklich was machen?«
»Das hängt weitgehend von dem Richter ab. Aber da kann ich einen gewissen Einfluss nehmen …«
Williams Blick fiel wieder auf Philip und seinen Schützling. Der Prior strahlte, er kostete seinen Triumph sichtlich aus. Die riesigen bunten Glasfenster über ihnen tauchten die beiden in ein zauberisches Licht; sie wirkten wie Traumgestalten. »Unzucht und Nepotismus«, stieß William freudig hervor. »Mein Gott!«
»Wenn wir ihm das anhängen können«, sagte Waleran genießerisch, »dann ist der Kerl die längste Zeit Prior gewesen.«
Im Grunde war es unvorstellbar, dass ein Richter, der seine vier Sinne beisammen hatte, Philip schuldig sprach.
Es war Philip zeitlebens nicht allzu schwergefallen, den Versuchungen des Fleisches zu widerstehen. Als Beichtvater wusste er, dass manche Mönche einen verzweifelten Kampf gegen die fleischliche Lust führten, doch er selbst war weitgehend davon verschont geblieben. Als junger Mann, im Alter von achtzehn Jahren, war er eine Zeit lang von unkeuschen Träumen heimgesucht worden, doch hatte diese Phase nicht lange gedauert. Er hatte niemals den Geschlechtsakt ausgeführt und war inzwischen wahrscheinlich auch zu alt dafür.
Die Kirche indes nahm die Anklage sehr ernst und zitierte Philip vor das Kirchengericht. An der Verhandlung sollte auch ein Erzdiakon aus Canterbury teilnehmen. Walerans Antrag, den Prozess in Shiring stattfinden zu lassen, hatte Philip erfolgreich angefochten. Zum Ort der Verhandlung wurde Kingsbridge bestimmt, wo ja immerhin die Kathedrale stand.
Philip räumte seine persönliche Habe aus dem Haus des Priors, das während des Prozesses dem Erzdiakon zur Verfügung gestellt werden sollte. Er wusste natürlich, dass er sich nie der Unzucht schuldig gemacht hatte und daher logischerweise auch nicht des Nepotismus schuldig sein konnte, denn wie kann ein Kinderloser seine Söhne bevorzugen? Dennoch erforschte er sein Herz gründlich und fragte sich, ob die Beförderung Jonathans vielleicht nicht rechtens gewesen war. Ebenso wie unkeusche Gedanken Schatten einer größeren Sünde waren, so mochte auch die Vorzugsbehandlung eines geliebten Waisenknaben ein Schatten des Nepotismus sein. Von Mönchen wurde erwartet, dass sie auf die Tröstungen des Familienlebens verzichteten, und dennoch war Jonathan für Philip in vieler Hinsicht wie ein Sohn gewesen. Schon in jungen Jahren hatte Philip ihn zum Cellerar ernannt, nun war Jonathan auf seine Veranlassung Subprior geworden. Habe ich das alles aus persönlichem Stolz und Vergnügen getan, fragte er sich.
Doch, ja.
Jonathan zu unterrichten, ihn aufwachsen zu sehen, mitzuerleben, wie er sich in die Klosterverwaltung einarbeitete – all dies hatte Philip mit großer Befriedigung erfüllt. Doch selbst wenn dem nicht so gewesen wäre, wenn die Fortschritte des jungen Mannes ihn kaltgelassen hätten – Jonathan wäre auch dann der fähigste junge Amtsträger in der Priorei. Er war hochintelligent, gottesfürchtig, einfallsreich und gewissenhaft. Im Kloster aufgewachsen, kannte er nur das monastische Leben und gierte nie nach Freiheit. Auch Philip war in einer Abtei großgeworden. Wir Klosterwaisen sind von dem Holz, aus dem die besten Mönche geschnitzt werden, dachte er.
Er packte ein Buch aus der Tasche, das Evangelium des Lukas, ein ungemein kluges Buch. Ja, er hatte Jonathan wie einen Sohn behandelt, aber er hatte sich keiner Sünde schuldig gemacht, die ein Kirchengerichtsverfahren rechtfertigte. Die Anklage war völlig aus der Luft gegriffen.
Unglücklicherweise war allein die Anklage als solche schon schädlich, beeinträchtigte sie doch seine moralische Autorität. Manche Leute, so viel stand fest, würden sich nur den Vorwurf merken, nicht das Urteil. Beim nächsten Mal, wenn Philip sagte: »Begehre nicht deines Nächsten Weib«, würde so manch ein Gemeindemitglied heimlich denken: Aber als
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