Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
abgesehen, hätte sich um diesen Knaben so kümmern können wie ich. Die Eltern aber waren unauffindbar. Wie hätte Gott seinen Willen deutlicher …« Er stockte. Soeben hatten Jonathan und Jack die Kirche betreten. Und bei ihnen war Jacks Mutter: die Hexe.
Sie war alt geworden: Ihr Haar war schneeweiß, ihr Gesicht zerfurcht. Aber ihr Gang war der einer Königin: den Kopf hocherhoben, die seltsam goldenen Augen voller Widerspruchsgeist. Philip war zu überrascht, um gegen ihr Erscheinen zu protestieren.
Das Gericht schwieg, als Ellen näher trat und vor Erzdiakon Peter stehen blieb. Ihre Stimme klang wie Trompetenschall und brach sich an den Mauern der von ihrem Sohn erbauten Kirche. »Ich schwöre bei allem, was heilig ist, dass Jonathan der Sohn meines verstorbenen Ehemannes, Tom Builder, und dessen erster Gemahlin ist.«
Unter den versammelten Klerikern erhob sich aufgeregtes Geraune, das alle Einzelstimmen übertönte. Philip war völlig überrumpelt. Offenen Mundes starrte er Ellen an. Tom Builder? Jonathan Tom Builders Sohn? Ein Blick auf Jonathan genügte, um ihn von der Richtigkeit der Behauptung zu überzeugen: Sie waren einander sehr ähnlich, nicht nur, was die Körpergröße betraf, sondern auch von den Gesichtszügen her. Jonathan fehlte nur der Bart.
Philips erste Reaktion war das Gefühl des Verlusts. Bisher war er für Jonathan wie ein Vater gewesen. Die Entdeckung seines leiblichen Vaters änderte alles – obwohl derselbe nicht mehr lebte. Philip konnte sich nun auch insgeheim nicht mehr als Jonathans Vater fühlen, und Jonathan nicht mehr als Philips Sohn. Von nun an war er Toms Sohn. Philip hatte ihn verloren.
Aufseufzend setzte sich Philip hin. Als die Zuschauer sich beruhigt hatten, berichtete Ellen, wie Jack damals das schreiende Kind gefunden hatte. Sie erzählte – und Philip lauschte ihren Worten wie in Trance –,wie sie und Tom sich im Gebüsch versteckt und die Heimkehr Philips und der anderen Mönche von der Morgenarbeit beobachtet hatten. Wie Francis die Brüder mit dem Neugeborenen im Arm erwartete und Johnny Eightpence versuchte, das kleine Wesen mit Hilfe eines Tuchzipfels zu füttern, den er zuvor in Ziegenmilch getaucht hatte.
Philip erinnerte sich deutlich daran, wie sehr der junge Baumeister ein oder zwei Tage später, als sie sich zufällig im Wald begegneten, am Schicksal des Findelkinds Anteil genommen hatte. Und wie freundlich er in späteren Jahren, als Jonathan zu einem frechen kleinen Bengel heranwuchs, zu ihm gewesen war. Aufgefallen war das niemand – war der Bub in jenen Tagen doch der Liebling der ganzen Priorei. Außerdem arbeitete Tom ja auf dem Klostergelände. Rückblickend betrachtet war es indes ganz klar, dass Tom dem kleinen Jonathan besondere Aufmerksamkeit geschenkt hatte.
Als Ellen ihre Aussage beendet hatte und sich setzte, wusste Philip, dass damit seine Unschuld bewiesen war. Ihre Enthüllungen hatten ihn derart erschüttert, dass er vorübergehend ganz vergessen hatte, wo er sich befand. Ihre Geschichte über Geburt und Tod, Verzweiflung und Hoffnung, uralte Geheimnisse und dauerhafte Liebe ließ die Frage nach Philips Keuschheit zweitrangig erscheinen. Was sie natürlich nicht war – hing doch die Zukunft der Priorei von ihrer Beantwortung ab. Ellen hatte sie allerdings so überzeugend beantwortet, dass an eine Fortsetzung der Verhandlung im Grunde nicht mehr zu denken war. Nach dieser Aussage kann mich selbst Peter von Wareham nicht mehr schuldig sprechen, dachte Philip. Waleran hat wieder einmal den Kürzeren gezogen.
Der Bischof selbst war noch nicht bereit, die Niederlage einzugestehen. Anklagend zeigte er mit dem Finger auf Ellen und rief: »Ihr sagt, Tom Builder habe Euch erzählt, dass der Säugling, den man in die Zelle brachte, sein Sohn sei.«
»Ja«, bestätigte Ellen. Sie war auf der Hut.
»Die beiden anderen Zeugen, die das hätten bestätigen können – ich meine die Kinder Alfred und Martha –, haben Euch nicht zum Kloster begleitet.«
»Nein.«
»Und Tom Builder ist tot. Für Toms Worte seid Ihr demnach die einzige Zeugin. Eure Aussage kann nicht bestätigt werden.«
»Wie viel Bestätigung wollt Ihr denn noch?«, fragte Ellen forsch zurück. »Jack sah das ausgesetzte Kind. Francis nahm es auf. Jack und ich begegneten Tom, Alfred und Martha. Francis brachte das Kind in die Priorei. Tom und ich beobachteten, was dort geschah. Wie viele Zeugen würden Euch denn zufriedenstellen?«
»Ich glaube Euch kein
Weitere Kostenlose Bücher