Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
wissen.
»Ich habe mich an das Vorbild von Saint-Denis gehalten«, sagte Jack.
»Aber hat das irgendwelche Vorteile?«
»Ja, der Pilgerstrom wird nicht aufgehalten.«
»Es gibt also nur eine Reihe mit kleinen Fenstern?«
Jack hatte schon damit gerechnet, dass sie bald auf die Fenster zu sprechen kommen würde – schließlich war Sally Glaserin von Beruf. » Kleinen Fenstern?«, fragte er mit gespielter Entrüstung. »Die Fenster sind geradezu riesig! Als ich zum ersten Mal Fenster dieser Größe in eine Kirche einbaute, prophezeite mir alle Welt den baldigen Einsturz des Gebäudes! So stark durchbrochene Wände, hieß es, seien nicht genügend tragfähig.«
Sally ließ nicht locker. »Wenn die Apsis rechtwinklig wäre, hättest du eine große, flache Wand zur Verfügung. Du könntest wirklich große Fenster einbauen.«
Da hat sie natürlich recht, dachte Jack. Bei einer abgerundeten Apsis musste der gesamte Chorraum gleichmäßig in die traditionellen Gliederungselemente Arkade – Empore – Lichtgaden aufgeteilt werden. Eine rechteckige Apsis eröffnete neue architektonische Möglichkeiten. »Den Pilgerstrom kann man vielleicht auch auf andere Weise in Gang halten«, sagte er nachdenklich.
»Und die aufgehende Sonne würde durch die großen Fenster scheinen«, ergänzte Sally.
Das konnte Jack sich gut vorstellen. »Man könnte an eine Reihe hoher, schmaler Lanzettfenster denken«, sagte er.
»Oder an ein einziges, großes Fenster wie eine erblühte Rose«, sagte Sally.
Welch eine Idee! Dem Betrachter im Mittelschiff musste das Rundfenster wie eine gewaltige, in unzählige bunte Scherben zerspringende Sonnenscheibe erscheinen. Jack sah sie deutlich vor sich … »Ich frage mich, welches Motiv sich die Mönche wünschen.«
»Die zehn Gebote und die Propheten«, sagte Sally.
Er zog eine Braue hoch und sah sie an. »Du raffiniertes Luder hast schon mit Prior Jonathan gesprochen, wie?«
Er hatte sie offenbar ertappt, doch blieb ihr die Beantwortung seiner Frage erspart, weil in diesem Moment Peter Chisel, ein junger Skulpteur, zu ihnen trat. Peter war ein scheuer, linkischer Mann mit hellem Haar, das ihm immer wieder ins Gesicht fiel. Seine Skulpturen waren großartig. Jack war froh und glücklich darüber, ihn zu haben. »Was kann ich für Euch tun, Peter?«, fragte er.
»Mit Verlaub – eigentlich suche ich Sally.«
»Nun, die habt Ihr gefunden.«
Sally stand auf und klopfte sich die Brotkrümel vom Schoß. »Bis später«, sagte sie zu ihren Eltern und verschwand mit Peter in dem niedrigen Gang, der zur Wendeltreppe führte.
Jack und Aliena sahen einander an.
»Ist sie rot geworden, oder täusche ich mich?«, fragte Jack.
»Ich hoffe«, antwortete Aliena. »Meine Güte, es ist auch wirklich an der Zeit, dass sie sich verliebt! Sie ist schon sechsundzwanzig!«
»Ganz recht. Ich hatte schon alle Hoffnung aufgegeben. Sie hat sich’s in den Kopf gesetzt, als alte Jungfer zu enden, dachte ich mir.«
Aliena schüttelte den Kopf. »Nein, Sally bestimmt nicht. Sie ist genauso sinnlich wie alle anderen auch. Nur eben ein bisschen wählerischer.«
»Meinst du?«, fragte Jack skeptisch. »Peter Chisel ist nicht gerade ein Mann, um den sich die Mädchen in der Grafschaft reißen …«
»Die Mädchen in der Grafschaft reißen sich um große, gut aussehende Männer wie Tommy, die allen Sätteln gerecht sind und mit roter Seide verbrämte Mäntel tragen. Sally ist da anders. Sie sucht sich einen klugen, einfühlsamen Mann. Peter ist genau der Richtige für sie.«
Jack nickte. Obwohl er nie darüber nachgedacht hatte, spürte er, dass das, was Aliena sagte, stimmte. »Sally ist wie ihre Großmutter«, sagte er. »Meine Mutter verliebte sich damals auch in so einen Kauz.«
»Sally kommt auf deine Mutter raus – und Tommy auf meinen Vater«, sagte Aliena.
Jack lächelte sie an. Aliena war schöner denn je. Ihr Haar war mit grauen Strähnen durchzogen und die Haut an ihrem Hals nicht mehr von jener Marmorglätte wie ehedem. Aber da sie mit zunehmendem Alter die Rundungen der Mutterschaft verlor, traten ihre markanten Wangenknochen deutlicher hervor und verliehen ihrem hübschen Gesicht eine herbe, fast architektonische Schönheit. Jack fuhr mit der Hand die geschwungene Linie ihres Kiefers hoch. »Wie einer meiner Schwibbogen«, sagte er.
Sie lächelte.
Über den Hals glitt seine Hand in ihren Ausschnitt. Auch Alienas Brüste hatten sich verändert. Er konnte sich noch gut daran erinnern, wie sie
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