Die Saga vom Eisvolk 01 - Der Zauberbund
ein Abenteurer. Ganz und gar haltlos, wenn ich das sagen darf. Ich glaube nicht, dass er von den Zielen der Rebellen besonders begeistert ist. Er benutzt sie nur als Sprungbrett, um den Helden zu spielen. Wahrscheinlich ist er für sie mehr eine Last als eine Hilfe. Aber du musst ihn selbst fragen, wo er wohnt.«
»Nein, danke! Ich will nicht das Geringste mehr mit ihm zu tun haben. Mit diesem Dieb!«
Benedikt sah zufrieden aus.
Nach jenem Tag gelang es Silje nicht, ihre Ruhe wiederzufinden. Das Rätsel um Tengel beschäftigte Tag und Nacht ihre Gedanken. Sie wachte davon auf, dass sie im Schlaf laut schrie, und zwang sich dazu, ganz vernünftig nachzudenken – ohne dass es ihr vollständig geglückt wäre. Was sie jedoch am meisten quälte, war, dass die Unruhe in ihrem Inneren zunahm. Ihre Blicke schweiften bebend und in heimlichem Verlangen die Hänge hinauf. Manchmal konnte sie dort oben Rauch erkennen, andere Male wiederum war es dort wie ausgestorben. Dann hatte sie Angst, er könnte fort sein und sie würde ihn nie wiedersehen. Wenn sie aber erneut die Rauchwolke entdeckte, dann wünschte sie sehnlichst, dass er aus ihrem Leben verschwinden möge. Oder noch besser – dass sie ihm nie begegnet wäre.
Die Weihnachtstage rückten schnell näher. Stille, traurige Tage würden es werden. Niemand konnte sich so recht freuen, niemand hatte so recht Lust, was auch immer zu feiern. Denn gerade diese Feiertage waren ja Familienfeiertage – und alle hatten im Laufe des letzten Jahres ihre Lieben verloren. Der Verlust, den sie während des Alltags zu verdrängen suchten, kam ihnen jetzt verstärkt zu Bewusstsein. Die Erinnerung an frühere Weihnachtsfeste, die Wärme, die Geborgenheit, glückliches Leben am gedeckten Tisch... lächelnde Gesichter, die es nicht mehr gab... Benedikt, Silje, alle gingen sie still umher und verrichteten ihre Arbeit, oft mit Tränen in den Augen. Wäre Sol nicht gewesen, dann hätten sie für dieses Weihnachtsfest überhaupt keine Vorbereitungen getroffen.
Doch drei Tage vor Weihnachten wurde ihr ganzes Leben auf den Kopf gestellt. Da erst ging ihnen wirklich auf, wie wunderbar die Monate gewesen waren, die sie zusammen verbracht hatten.
Ein Wagen fuhr vor dem Hauptgebäude vor, und heraus stieg eine gebieterische Dame, mit einer Brust, die sie vor sich her trug, als wolle sie sagen: »Hier komme ich!«, und einem Kinn, das mindestens genauso bestimmt war. Sie war nach der letzten Mode gekleidet, mit Halskrause, perlenbesticktem Hut und plissiertem Kleid mit Puffärmeln. Ihr folgte ein fünfzehnjähriger Junge, sauertöpfisch und missgelaunt.
»Alle Teufel!«, murmelte Benedikt. »Die Witwe meines Neffen! Was verdammt noch mal will die denn hier?«
Noch eine stieg aus dem Wagen. Ein junges Mädchen, das ebenso missgelaunt aussah wie der Junge. Dazu hat sie vielleicht auch allen Grund, dachte Silje, so fett wie sie ist.
»Abelone!«, begrüßte Benedikt sie. »Das ist aber eine Überraschung. Was führt dich hierher?«
»Lieber Benedikt«, sagte die überwältigende Dame überströmend. »Ich habe von deinem Unglück gehört. Dass dein lieber Bruder und seine gesamte Familie von der Pest dahingerafft wurden. Und da sah ich es als meine
Pflicht
an, dir zu Hilfe zu kommen. Wir haben ja nur noch uns, du und ich und meine lieben Kinder.«
»Gibt es zu wenig Essen in Trondheim?«, murmelte Benedikt leise. Laut sagte er: »Ihr seid selbstverständlich herzlich eingeladen, mit uns Weihnachten zu feiern, das weißt du doch.«
Sein Willkommen klang, als hätte er einen großen Schluck Essig getrunken.
»Weihnachten?«, lachte Abelone. »Meine Kinder brauchen Landluft, und du brauchst eine Frau, die dir den Haushalt führt. Wir haben uns entschlossen, hierherzuziehen, mein Lieber. Es ist meine simple Pflicht, mich um dich zu kümmern. Du bist ja jetzt alt, und du verdienst es, deine letzten Tage in Ruhe und Frieden zu verleben.«
Benedikt war sprachlos, entsetzt, vor Schreck wie gelähmt.
Sie machten sich daran, die Treppe hinaufzugehen.
»Guten Tag, Grete, guten Tag, Marie«, sagte Abelone gnädig und nickte dem Knecht nur kurz zu. »Aber was ist das für ein kleines Mädchen?«
Sol versteckte sich hinter Maries Rock.
»Das ist Sol«, sagte Benedikt stolz. »Und das ist Silje. Sie und der kleine Dag wohnen jetzt hier.«
Abelones Augen wurden langsam eiskalt. »Sind das Verwandte?«
»Nein, aber wir haben sie so gern, als wären sie es.«
Der Knecht und die alten Damen
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