Die Saga vom Eisvolk 02 - Hexenjagd
niedrigen Blutdruck.
»Ihr seid Euch doch wohl klar darüber, daß Ihr das Bein verlieren könnt«, sagte Tengel brutal. »Ihr müßt Euch mehr bewegen. Und Ihr seid viel zu schwer. Ich werde Euch jetzt behandeln, so gut ich kann, und mit Eurer Erlaubnis werde ich in einer Woche wiederkommen, um die Behandlung fortzusetzen.«
Der ältere Herr schwitzte, nickte erschrocken und versprach, alles zu tun, was Tengel sagte.
Vollerei und Müßiggang, dachte Tengel, als er wieder auf dem Heimweg war. Da leidet das Volk unter Hunger und Elend - und die hier sterben vor lauter Überfluß!
Aber er freute sich darauf, Silje von seinen Erlebnissen auf Schloß Akershus zu erzählen.
Das war der Anfang. Bald ließ ein Adliger nach dem anderen Tengel rufen, denn die hohen Herrschaften auf Akershus waren sehr zufrieden mit ihm. Gelegentlich reiste er hin - und es blieb ihm nicht verborgen, daß es in erster Linie die Damen betraf, die wohl neugierig auf ihn waren. »Dämonenarzt« nannten sie ihn, ein Titel, der ihm nicht besonders gefiel.
Eines Tages, als er von einem seiner »Triumphzüge«, wie Silje sie nannte, eben heimgekehrt war, kam Sol zu ihm.
Sie erzählte, eine alte Frau warte seit vielen Stunden darauf, daß er ihre Krankheit behandelte.
»Dann sag ihr, daß ich heute keine Zeit habe«, sagte er ungeduldig. »Ich bin den ganzen Tag unterwegs gewesen.« »Tja, sie zahlt wohl auch nicht so gut«, antwortete Sol kurz und ging.
Tengel hielt jäh inne, und erschrocken dachte er an seine erfolgreiche Arbeit bei den Reichen und Vornehmen. Er machte auf dem Absatz kehrt und folgte dem Mädchen.
»Danke, Sol!« sagte er.
Die arme Frau bekam ihre Hilfe - und Tengel ließ den Wohlhabenden ausrichten, daß er seinen Hof nur noch für Notfälle verlassen könne. Und so kamen sie denn selber zu ihm, die Hochwohlgeborenen und Vermögenden, denn das Gerücht über seine Taten hatte sich schnell verbreitet, und sie begriffen, daß er wirklich imstande war, Krankheiten zu heilen. Und obwohl die Kranken bei seinem ersten Anblick vor Schreck zusammenfuhren, fanden sie ihn bald vertrauenerweckend und sympathisch. Aber es war klar, daß die Worte »Eisvolk« oder »Hexenmeister« niemals einem seiner Patienten gegenüber erwähnt werden durften. Und die gehörten nicht mehr länger nur den oberen Ständen an, ganz im Gegenteil.
Im Spätherbst redete Silje mit ihrem Mann. »Tengel…
Falls mir etwas zustoßen sollte…« »Nein!« sagte er heftig.
»Es darf dir nichts zustoßen.« »Nein, nein«, sagte sie etwas sanfter. »Aber wenn nun das Schlimmste geschehen sollte… dann möchte ich gerne, daß für die Zukunft gesorgt ist.«
Er antwortete nicht. Sein Gesichtsausdruck verriet nur tiefe Verzweiflung.
»Kümmerst du dich um die Kinder? Um alle zusammen?«
»Du weißt, daß ich das tue«, sagte er mit gequälter, halberstickter Stimme.
»Aber sie brauchen eine Mutter.«
»Das schaffe ich schon allein«, brach es aus ihm hervor.
Tengel schlang seine Arme um sie und zog sie beinahe verzweifelt an sich. »Du weißt, daß ich nie wieder heiraten würde, Silje. Ich habe dreiunddreißig Jahre allein gelebt. Dann traf ich dich. Und keine andere wird jemals deinen Platz einnehmen.«
Sie wußte, daß er meinte, was er sagte. Tengel war ein Mann, der nur einer Frau gehören konnte. Deshalb behielt sie ihren Vorschlag für sich. Sie begriff auf einmal, daß er sowieso vergebens wäre.
Und eigentlich war sie mit seiner Antwort ganz zufrieden.
Der Oktober kam mit flammendem Laub und klarem blauem Himmel. Tengel kehrte eines Tages von einem Auftrag heim. Er reiste jetzt nach Möglichkeit nicht von zu Hause fort, aber diesmal war es wirklich notwendig gewesen, denn es ging um einen Patienten, der nicht transportiert werden konnte. Während seines gesamten Weges hatte er eine tiefe Unruhe verspürt, deshalb ritt er in scharfem Tempo.
Schon von weitem sah er Sol, die ihm auf dem Weg vom Haus entgegengerannt kam - dem Weg, der einmal eine Allee werden sollte. Ihr Gesichtsausdruck jagte ihm kalte Schauer über den Rücken.
»Vater! Vater!« rief sie. »Mach schnell! Mutter ist sehr krank!«
Es war das erste Mal, daß Sol die Worte Mutter und Vater gebrauchte. Und die Tränen strömten ihr über die Wangen.
»Was?« schrie Tengel entsetzt. »Hast du gesagt, Mutter ist krank?«
»Ja! Mach schnell!«
Er gab dem Pferd die Sporen und galoppierte auf den Hofplatz. Dort sah er einen fremden Wagen stehen und begriff, daß Sol so klug
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