Die Saga vom Eisvolk 03 - Abgrund
Haus verschwunden. War einkaufen gegangen, sagte das Dienstmädchen dort. Und dann war sie nicht zurückgekehrt.
»Na, Sol ist eben Sol«, sagte Tengel mit gekünstelter Munterkeit, nachdem sie sich bereits siebeneinhalb Wochen lang Sorge gemacht hatten. »Sie hat bestimmt Knall auf Fall die Idee gehabt, irgendwohin zu fahren.«
»Bestimmt«, sagte Dag, der gemeinsam mit seiner Mutter und Jacob Skille zu Besuch war. »Das sieht ihr ähnlich.« Und dann schwiegen sie alle.
Liv betrachtete verstohlen Dag. Anscheinend hatte sie ihre Depression überwunden. Jedoch nicht im Unterbewußtsein. Dort lastete noch immer das Schuldgefühl aller Welt auf ihr, so wie es Laurents und seine Mutter ihr eingeprägt hatten. Eine gescheiterte Ehe ist immer eine Niederlage - auch für den unschuldigen Teil. Liv war eine der wenigen Religiösen in der Familie, und sie verkraftete ihre Niederlage schwer, auch wenn sie wieder lächeln und lachen konnte.
»Ich vermisse Sol«, sagte sie plötzlich. »Es ist so schön, das Zimmer mit ihr zu teilen. Sie war so wunderbar, wenn ich schlechte Träume hatte. Eine Nacht konnte sie mich trösten, wie die Mutter ihr Kind, und eine andere konnte sie mich ausschimpfen, daß ich so dumm sein konnte, all die bösen Lügen zu glauben. Nun habe ich niemanden mehr, der mich tröstet. Manchmal wünsche ich, ich wäre tot.« Die anderen starrten sie an.
»Du träumst schlecht, Liv?« fragte Silje erschrocken. Es war, als habe Liv mit sich selbst gesprochen. Nun wachte sie gleichsam wieder auf.
»Was? Ja, das tue ich. Und jetzt kann ich danach nicht wieder einschlafen, weil Sol nicht da ist.«
»Nein, aber das geht doch nicht!« entfuhr es Charlotte aufgeregt. »Liebe Liv, vergib mir, daß ich etwas persönlich werde, aber rein zufällig weiß ich, daß Dag nichts lieber möchte, als dich zu heiraten. Warum nimmst du das Angebot jetzt nicht an?«
»Jetzt?« sagte Liv mit großen Augen. »Das ist zu früh!« »Aber du brauchst ganz dringend jemanden, der sich um dich kümmert.«
Liv schlug den Blick nieder. »Oder jemanden, um den ich mich kümmern kann«, sagte sie schüchtern. »So, daß ich mich selbst vergesse.«
»Du kannst dich mehr als gern um mich kümmern«, sagte Dag lächelnd.
»Aber darf das denn wirklich sein?« wandte Silje ein. Sie war trotz allem die Konventionellste von ihnen. »Ich meine, würden die Leute euch dann nicht etwas schräg angucken? So wenige Monate nach Laurents' Tod.«
Charlotte legte all ihre Seele in ihre Worte. »Klatsch und Gerüchte waren noch nie mein Lieblingszeitvertreib. Doch dieses Mal werde ich selbst Gerüchte in die Welt setzten. Ich werde die Nachbarn und Bekannten mit den schrecklichen Machenschaften von Laurents und seiner Mutter überschütten. Dann sind sie schockiert und voreingenommen und werden Liv fürchterlich bedauern. Denn Liv ist zu bedauern! Und dann werde ich von ihren schrecklichen Albträumen erzählen und wie sehr Dag sie ins Herz geschlossen hat.«
Silje nickte. »Jemand wird schon darüber reden. Doch, ich glaube, die meisten werden tolerant sein. Aber der Pastor. ..?«
»Ich habe zum Pastor gute Verbindung«, sagte Charlotte. »Schließlich habe ich der Kirche die schönen Kerzenleuchter geschenkt habe. Er soll sich unterstehen, zu zögern. Dann nehme ich die Kerzenleuchter wieder zurück.« Dag lächelte. »Mutter, Ihr seid wunderbar!«
»Aber eine große Hochzeit wird es nicht werden«, sagte Silje.
»Müßt ihr alles über meinen Kopf hinweg entscheiden?« flüsterte Liv verzweifelt. »Ich kann nicht wieder heiraten - niemals wieder. Weil ich untauglich und wertlos bin, und deshalb nicht liebenswert. Ich kann ja noch nicht einmal Kinder kriegen.«
»Na, na«, sagte Tengel. »Das letztere weißt du doch gar nicht. Das kann genauso gut an Laurents gelegen haben.«
»Und niemand von uns hier findet, daß du untauglich und wertlos bist, das weißt du«, nahm Dag den Gesprächsfaden auf.
»Es gibt wohl kaum jemanden, der vielseitiger ist als du, Liv«, sagte Charlotte. »Du besorgst den Haushalt perfekt, du bist künstlerisch begabt und intelligent, und du kannst rechnen.«
»Du bist voller Liebe für alle Lebewesen«, sagte Tengel. »Du warst immer so voller Sonnenschein! Liv, wir haben dich in diese fürchterliche Ehe getrieben. Kannst du uns verzeihen?«
Liv schaute sie aus unglücklichen, nahezu verzweifelten Augen an.
»Was ihr sagt, hilft nichts«, sagte sie angespannt. »Ich kann nicht mehr heiraten.«
Dag war
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