Die Saga vom Eisvolk 03 - Abgrund
pfiff es. »Nördlich von der Festung Akershus auf alle Fälle.« Darauf war sie auch schon gekommen.
Sie betrachtete ihn heimlich. Einfach und unbeholfen war er, aber sie konnte sich selbst als Vierzehnjährige schon verstehen. Sein grober Körperbau, die reinen Gesichtszüge und seine auffallende Männlichkeit wirkten sehr anziehend auf sie.
Sie lachte etwas. »Ja, Klaus, alter Freund. Das war wirklich ein überraschendes Wiedersehen.«
Er schaute ein wenig entmutigt drein. »Ihr zieht das Unglück an, Jungfer Sol. Sagt mir, Ihr seid doch keine Hexe?« »Was möchtest du darauf für eine Antwort haben?« Klaus sah hinunter aufs Moos. »Mein Mädchen«, sagte er leise.
»Das bin ich«, sagte Sol ungewohnt sanft. »Aber was machen wir jetzt?«
Für Klaus war es nicht so einfach, sich verwickelte Pläne auszudenken. Er stocherte mit der Schuhspitze im Moos und gab keine Antwort.
»Ich kann nicht nach Hause nach Lindenallee«, sagte Sol. ,,Noch weiß die Obrigkeit meinen Namen nicht, und ich will meine Familie schützen. Und ich kann auch nicht zurück nach Oslo. Dann nehmen sie mich sofort gefangen. Die erkennen mich jetzt an meinen Augen wieder.«
»Und ich kann nicht zurück in den Stall des Lehnsherren«, sagte Klaus. »Übrigens will ich das auch gar nicht. Dort hatte ich es nicht so gut.«
Sol waren Narben auf seiner einen Wange aufgefallen. Sie konnten von einem Schlag mit einer Peitsche herrühren. »Die einzige Stelle, an der ich es gut hatte, das war auf Grästensholm«, sagte er verträumt. »Wenn ich doch nur wieder dorthin zurück könnte!«
»Das geht aber nicht. Viel später habe ich gehört, daß man dich damals fortgeschickt hat, um uns zu trennen.« Von einer hohen Kiefer auf der Heide schrie ein Rotmilan. Sol schaute zu dem Vogel auf.
»Aber das haben sie nicht geschafft«, murmelte sie. »Wir haben uns bekommen, du und ich. Damals.«
Klaus seufzte, in Erinnerungen schwelgend. »Seitdem habe ich nur eine einzige Sehnsucht gehabt - das alles noch einmal zu erleben.«
»Aber mein Lieber, hast du denn keine anderen Mädchen gehabt?«
»Doch. Aber die waren nichts. Wie tote Kühe.«
Sol war geschmeichelt. »Wir werden ja sehen. Aber wohin sollen wir jetzt?«
Klaus starrte hinauf zum Himmel. »Ich habe gedacht,…« Bravo, dachte Sol, doch sie hielt den Mund. »Wir könnten zu mir nach Hause gehen.«
»Zum Stall des Lehnsherren? Das wäre ausgesprochen dumm, finde ich.«
»Nein, nein, ich meine nach Hause«
Tja, auch Klaus mußte wohl von irgendwoher stammen, dachte Sol. Für sie war er immer ein Wechselbalg gewesen, der aus einem sumpfigen Moos aufgetaucht war und nun unter den Menschen wandelte. »Aber was wird deine Familie dazu sagen?«
»Die gibt es nicht. Niemand wohnt dort, so weit ich weiß.« Sol strahlte. »Worauf warten wir dann noch? Ist es weit?« »Ein Stück.«
Es war tatsächlich noch »ein Stück«. Erst am nächsten Abend erreichten sie ein elend kleines Haus hoch oben am steilen Talhang. Sol wollte wissen, wo in Norwegen sie sich befanden, aber das wußte Klaus selbst nicht. Er kannte sein Zuhause nur unter dem Namen »der Platz«. Das Einzige, was Sol herausfand, war, daß sie nordwestlich von Oslo und Lindenallee waren - und außerdem ganz weit entfernt davon! Die Holzbalken in dem Haus hatten sich gut gehalten, und sie begannen sofort mit dem Aufzuräumen. Nachdem auch das Feuer brannte, richteten sie sich häuslich ein. Und an diesem Abend durfte Klaus seinen Traum noch einmal erleben. In Sols Armen liegen zu dürfen. Er weinte vor Glück. Und Sol? Doch, sie war ein bißchen gerührt. Klaus hatte sie gern, ganz unkompliziert, er verlangte nichts von ihr, akzeptierte alles, was sie tat - und physisch betrachtet, war er gut ausgestattet. Gab es auf Erden einen Mann, der Sol um ihrer selbst willen lieben konnte, dann war das Klaus. Oder wollte auch er nur ihre äußere Schönheit haben? Nein, an ihm zweifelte sie nicht, nicht an ihm!
Bis auf weiteres erfüllte er seinen Zweck. Und im übrigen hatte sie keine andere Wahl. Sie war allzu verrufen, um sich jetzt irgendwo sehen lassen zu können.
Für einen Augenblick quälte sie die Sehnsucht nach dem Mann aus dem Wirtshaus, nach ihm, der in ihren Träumen ihr Liebhaber war. Dem Fürsten der Unterwelt.
Sol jedoch trug die sichere Gewißheit in sich, daß sie ihn eines Tages Wiedersehen würde.
Zu Hause auf Lindenallee wußte niemand, was mit Sol in der Zwischenzeit geschehen war. Sie war nur plötzlich aus dem neuen
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