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Die Saga vom Eisvolk 04 - Sehnsucht

Die Saga vom Eisvolk 04 - Sehnsucht

Titel: Die Saga vom Eisvolk 04 - Sehnsucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margit Sandemo
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hatte sie nicht verbergen können. »Schläft sie?« fragte Tarald unsicher.
    Die Frage war so unsinnig, ein deutlicher Beweis dafür, wie verzweifelt er den Anschein von Glück und Harmonie aufrecht zuerhalten versuchte. Wer schlief denn mit einem solchen starren Ausdruck von Schmerz und Angst im Gesicht?
    Niemand hatte die Kraft, zu antworten. Niemand hatte die Kraft, ihn daran zu hindern, zur Wiege zu gehen. Tengel packte die Furcht, als er sah, wie der Junge stehen blieb und zur Salzsäule erstarrte. Wie gelähmt verharrte er in halbgebückter Stellung über der Wiege, unfähig, sich zu lösen, unfähig, seinen starren Blick abzuwenden. Niemand bemerkte, daß Tarjei ihm nachgeschlichen war. Dann endlich erwachte Tarald wieder zum Leben. Sein Blick flackerte irre vor Entsetzen im Raum umher, fiel auf Sunniva, und er begriff, wie tief ihr Schlaf wirklich war.
    Er gab einen entsetzlichen Laut von sich, einen halb erstickten Schrei voller Qual, und rannte aus dem Zimmer, aus dem Haus, in den Sturzregen hinaus und tief, tief in den Wald hinein, bevor er endlich halt machte, fiebernd bis in den letzten Winkel seiner Seele.
    In Tengels Augen stand der blanke Kummer. Seine Hand schloß sich fest um Tarjeis. Der Junge stand an der Wiege und blickte hinunter.
    Was Tarjei sah, wühlte sogar sein nüchternes, realistisches Gemüt auf.
    »Das arme Kind«, sagte er und bahnte damit wärmeren Gefühlen den Weg als der Abscheu, die sie alle empfanden. »Ja«, sagte Tengel leise.
    Die Augen des Kindes waren geschlossen. Es schrie nicht, bewegte nur ab und zu Hände und Füße in kleinen, krampfartigen Zuckungen. Seine Schultern waren viel zu breit und spitz für ein Neugeborenes, und vermutlich würden sie einmal denen von Tengel ähnlich sein. Außerdem saß der Kopf unmittelbar auf einem tonnenähnlichen Körper, und die Arme waren so lang wie die eines Affen. Die Haare waren rabenschwarz und bedeckten große Teile des Körpers. Aber das Gesicht…
    Tarjei und die anderen, die Hanna und Grimar niemals gesehen hatten, glaubten ihren Augen nicht zu trauen. Etwas so Abstoßendes hatten sie sich in ihren schlimmsten Träumen nicht vorstellen können. Liv erinnerte sich wohl vage an die beiden Alten, aber dieses Monstrum in der Wiege kam ihr noch zehnmal schlimmer vor.
    Und dennoch empfand sie eine herzliche Zärtlichkeit für den unglückseligen kleinen Jungen.
    Der Pastor traf ein. Tengel nahm ihn und Dag draußen in Empfang und erklärte die Situation.
    Dag war ganz grau im Gesicht. »Wollt Ihr ihn sogleich taufen, Herr Martinius? Und ein Gebet für die arme Mutter sprechen?« »Aber natürlich.« Sie betraten das Geburtszimmer.
    Langsam erholten sich die beiden Männer von dem Schock, den sie erlitten, als sie den Säugling sahen - obwohl sie vorbereitet gewesen waren. Dag war wohl der einzige der Anwesenden, außer Tengel, der sich an Hanna und Grimar deutlich erinnerte. Und die Zukunft erschien ihm wie ein dunkler Tunnel - vor allem aber für das Kind in der Wiege. »Wie soll das Kind heißen?« sagte der Pastor voller Mitgefühl, und seine jungen, freundlichen Augen richteten sich auf die anderen.
    »Sein Vater ist nicht hier«, sagte Dag und schluckte schwer. »Aber wenn ich einen Vorschlag machen darf, dann lautet er Kolgrim. Tarald kann ihm ja später noch einen Namen geben. Der Pastor nickte.
    Alle fanden, daß Kolgrim ein passender Name war. Grim bedeutete häßlich, und kohlschwarz war er auch. »Aber darf ich ihm noch einen Beinamen geben?« sagte Liv. »Welchen?« »Der Erwünschte.«
    Yrja brach erneut in Tränen aus. Liv war so überaus verständnisvoll.
    »So soll es sein«, sagte Herr Martinius. Also wurde dieses unheimliche Monstrum auf den Namen Kolgrim, der Erwünschte getauft.
    Aber mitten in der Taufzeremonie passierte etwas Erschütterndes.
    Liv hielt das Kind als Taufpatin auf den Armen - sie hatte sich innerlich zusammenreißen müssen, bevor sie es anfassen konnte. Es wird besser werden, dachte sie. Wenn wir uns daran gewöhnt haben.
    Da öffnete der Knabe plötzlich die Augen. Alle hielten unwillkürlich den Atem an. Ohne daß der Säugling einen Laut von sich gab, starrten zwei katzengelbe, geschlitzte Pupillen Liv an. Und was sie in diesem Moment dachte, war so ungeheuerlich, daß sie es niemals einem Menschen zu sagen wagte.
    Denn was sie dachte, war: Wie kann ein winziges, neugeborenes Kind nur so voller Bosheit in die Welt schauen? Das kann doch gar nicht sein!
    Aber Tengel hatte den Blick auch

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