Die Saga vom Eisvolk 04 - Sehnsucht
zwar nicht soviel Schaden anrichten, als wenn das Getreide reif war, aber er hoffte trotzdem, daß er ausblieb. Die Saat konnte so leicht ausgeschwemmt werden, wenn es zu naß war. »Der Himmel zieht sich zu. Wir sollten machen, daß wir nach Hause kommen«, sagte er zu seinen beiden Söhnen, die hinter ihm gingen. Brand, der Jüngste, lauschte ernsthaft den weisen Worten des Vaters über den Ackerbau, während Trond, der Zweitälteste, zwischen den Blumen am Grabenrand herumsprang und eher geneigt war zu spielen. Tarjei war nicht dabei. Er hatte sich noch nie um die Landwirtschaft gekümmert, denn seine Gedanken hingen an anderen Dingen. Im Herbst sollte er in Oslo auf die Schule gehen dürfen, ein Priesterseminar - denn eine andere gab es nicht, und das Amt des Pastors galt als das ehrwürdigste in einer Gemeinde. Aber Tarjei wollte kein Pastor werden. Für ihn war das Seminar ein Sprungbrett zur Universität in Tübingen, wo er wirklich etwas lernen würde. Dort hatte sein Idol, Johannes Kepler, studiert, und vielleicht, vielleicht würde Tarjei dem großen Mathematiker und Astronomen sogar einmal begegnen.
Die Menschen von Lindenallee waren dem alten Pastor, der an der Pest gestorben war, immer ein Dorn im Auge gewesen. So sehr alt war er gar nicht gewesen, nur engherzig, ja verknöchert. Er hatte sich maßlos darüber geärgert, daß es im Kirchspiel noch andere außer ihm gab, die lesen und schreiben konnten. Das ließ ihn in den Augen der Leute weniger wichtig erscheinen. Daß der Amtsrichter, Baron Dag von Meiden, es konnte, war selbstverständlich und mußte akzeptiert werden. Aber die Frauen…? Die Mutter des Amtsrichters, Baronin Charlotte, hatte sie alle von Kindesbeinen an unterrichtet. Schrecklich! Wenn der Pastor gekonnt hätte, dann hätte er sie als Hexe auf dem Scheiterhaufen verbrennen lassen. Aber Herr Tengel stand ihm im Wege. Die hohen Herren auf Akershus duldeten nicht, daß man ihm oder jemandem aus seiner Sippe auch nur ein Haar krümmte.
Und dann all die Kinder und Enkelkinder, die sie unterrichtet und an dem Wissen hatte teilhaben lassen, das gewöhnlichen Leuten nun ganz gewiß nicht zustand! Naseweise Gören alle zusammen, die - das mußte er einräumen - mehr wußten als er selbst.
Der Pastor hatte sich dermaßen darüber geärgert, daß er fast ein Magengeschwür bekommen hätte.
Dagegen hatten sie alle ein ausgezeichnetes Verhältnis zu dem neuen, jungen Pastor, der zu der Zeit Vikar gewesen war, als der alte erkrankte. Sein Name war Martin, und deshalb hieß er nun Herr Martinius, und er war im Nidarosdom zu Trondheim ausgebildet worden. Die Zeit im Kirchspiel Grästensholm war seine Lehrzeit gewesen, und niemand war erstaunter darüber als er selbst, daß er nun hier zum Pfarrer berufen worden war. Aber die Pest hatte schrecklich gewütet, gerade auch unter den Geistlichen, denn die meisten von ihnen hatten - im Gegensatz zu seinem Herrn, dem Pastor von Grästensholm - treu ihre Dienste an den Kranken verrichtet.
Er war sich vollkommen bewußt, daß es Herr Tengel und dessen Enkelsohn Tarjei gewesen waren, die sein Leben gerettet hatten. Und obwohl Herr Tengel niemals in die Kirche kam und auch sonst kein Interesse am Christentum zeigte, entwickelt sich zwischen ihnen beiden ein tiefes Zusammengehörigkeitsgefühl.
Als Are und die Jungen nach Lindenallee zurückkehrten, war das Haus so gut wie ausgestorben.
Er ging hinauf zu seiner Mutter Silje, die nun den ganze! Tag lang das Bett hüten mußte. »Wo sind denn alle?«
»Falls du mit alle deinen Vater meinst, der ist eilig nach Grästensholm geritten«, sagte Silje munter. »Wenn das Kind sich ein bißchen beeilt, wird es noch ein Sonntagskind.« »So, ist es also soweit«, murmelte Are und wurde von jener Unruhe gepackt, die alle spüren, wenn ein Kind geboren werden soll. »Aber Tarjei ist doch heute zu Hause. Wo steckt er?«
»Na, was glaubst du wohl? Der hängt doch wie eine Klette an seinem Großvater - und ganz besonders, wenn es um spannende Krankenbesuche geht.« »Ihr hört Euch so fröhlich an, Mutter.«
»Ja, Sunniva war die ganze Zeit doch so gesund. Und wenn ich daran denke, wie elend ich mich fühlte, bevor Liv kam, dann glaube ich, daß alles gutgehen wird, Are. Mein erstes Enkelkind, denk nur!«
»Natürlich wird alles gutgehen!«
»Ich weiß, daß es gutgehen wird«, sagte Silje zuversichtlich. »Denn Hanna sagte damals, daß ich nur eine große Trauer im Leben erleiden würde. Und der Schmerz, den ich
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