Die Saga vom Eisvolk 04 - Sehnsucht
gesehen. Ihm wurde todesangst, und eine gewaltige Müdigkeit übermannte ihn. Er erinnerte sich an seine eigene Kindheit. Sollte dieses Kind auch so leiden müssen wie er?
Als Sunnivas armer toter Leib versorgt und alles, was getan werden konnte, getan war, nahm Tengel Tarjei beiseite. »Du weißt, daß du einmal den ganzen Medizinschatz des Eisvolks übernehmen wirst? Ich habe schon mit Liv und Dag und deinem Vater darüber gesprochen.« Der Junge nickte.
»Tarjei, hör mir genau zu, denn es ist ungeheuer wichtig daß niemals, unter keinen Umständen, diesen Knaben Zugang zu diesen Medikamenten erhalten! Er darf nicht das Geringste davon in die Finger bekommen. Und gib nichts von deinem Wissen an ihn weiter! Hast du mich verstanden?« »Ja, Großvater. Auch ich habe seine Augen gesehen. Wenn das alles nicht so tragisch wäre, dann wäre es sehr interessant.«
»Tarjei, mein Junge«, sagte Tengel und legte seine Hände schwer auf die Schultern seines Enkels. »Vergiß niemals, daß du vor allen Dingen ein Mensch bist. Erst danach bist du Wissenschaftler!« »Ich werde es nicht vergessen, Großvater.« Tengel ging hinaus zu Dag und Liv.
»Sagt mir ehrlich, wollt ihr… daß ich dem Kind etwas gebe? Bevor euch recht klar geworden ist, daß es lebt?« »Nein, Vater, ich bitte Euch«, sagte Dag. »Ich weiß, was Ihr meint, aber er ist mein Enkel, und obwohl wir uns ängstigen, ihn nur anzusehen, und auch wenn wir um seine Zukunft besorgt sind, so… Ja, es mag seltsam sein, aber ich fühle mich zu dem armen Geschöpf hingezogen.«
»Ich auch«, sagte Liv. »Wir haben gerade eben darüber gesprochen. Wir wollen versuchen, ihm zu helfen und ihm in diesem Leben beizustehen. Ihr habt von Eurer eigenen schweren Kindheit erzählt, Vater. Wir versprechen, daß er etwas Ähnliches nicht wird erleben müssen.«
Tengel nickte. »Er wird sich auch noch ein wenig zurechtwachsen. Die Haare am Körper werden bald abfallen, und seine Züge werden sich vermutlich noch etwas mildern. Ihr wißt ja, daß Neugeborene nie besonders hübsch sind.« »Das ist wahr«, sagte Liv.
Tengel zögerte. »Verzeiht ihr mir, wenn ich all das hier euch überlasse? Ich kann einfach nicht mehr.«
»Aber sicher. Habt Dank für all Eure Hilfe, Vater!« Sie glaubten, er meinte die Schwierigkeiten und Ängste im Zusammenhang mit der Entbindung.
Er hätte sie gerne umarmt, die beiden, aber dann hätten sie sich bestimmt gewundert.
»Ich danke euch, meine Kinder. Sagt Tarald einen ganz lieben Gruß von mir, und er soll nicht vergessen, daß das Kind ein kleines lebendiges Wesen ist, das ihn braucht.« »Ich werde wohl besser gehen und ihn suchen«, sagte Dag. »Nein, er wird schon kommen. Wenn der erdrückende, nagende Kummer über Sunniva sich ein bißchen gelegt hat.« »Wir werden uns um den Jungen kümmern, Vater«, sagte Liv. Sie wirkte sehr müde und traurig. »Yrja hat versprochen, mir dabei zu helfen. Wenn Mutter sie eine Weile entbehren kann?«
Tengel wandte sich zu Yrja um und strich ihr über die Wange. Noch nie vorher hatte sie bemerkt, daß der starke Mann so alt war!
»Du wirst hier mehr gebraucht, du gesegnetes Kind!« Dann verließ er Grästensholm.
Es hatte aufgehört zu regnen, aber das Gewitter hatte, wie so oft, sozusagen einen Bogen am Himmel geschlagen und schickte sich an, zurückzukehren.
Tengel ging langsam den Weg zwischen den Höfen hinunter. Er war so müde. So todmüde. Die gewaltigen Schultern bebten.
Silje zuliebe hatte er sich jugendlich und stark gehalten. Aber nun spürte er wirklich, daß er dreiundsiebzig war. Das war ein hohes Alter. Nur wenige Menschen wurden so alt. Er blieb stehen und sah hinauf zu dem bleifarbenen Abendhimmel. Daheim lag Silje in erwartungsfroher Hoffnung auf die Nachricht vom ersten Kind ihrer Enkelin. Sie war so tapfer, seine Silje, klagte selten über ihre Schmerzen, aber sie glaubte ja auch, daß sie nur die Gicht hätte.
Und nun mußte er ihr die tragische Neuigkeit ins Gesicht sagen. Über Sunnivas Tod. Über das Ungeheuer in der Wiege. Daran würde sie zerbrechen! Ihr ganzer Lebensmut, ihre Lebensfreude. Denn niemand hatte sich so um die elternlose Sunniva gesorgt wie Silje.
Tengel war nicht in der Lage, das schwere Schluchzen zu unterdrücken, das sich aus seiner Brust Bahn brach. Er flüsterte zu den Gewitterwolken hinauf:
»Bist du nun zufrieden mit dem, was du angerichtet hast, du verfluchter böser Tengel? Du bist sicher nicht dort oben, aber die Donnerwolken werden es dir
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