Die Saga vom Eisvolk 04 - Sehnsucht
richtig mit, was passierte, und sie begriff nicht, daß diese Reaktion von einer Angst herrührte, die sie nicht zugeben wollte. Dies ist meine Schicksalsstunde, dachte sie. Yrja, die Mißgeburt, gebiert…
In Wahrheit hatte sie den Kampf bereits aufgegeben - noch bevor er richtig begonnen hatte.
Tarjei trat hinaus in den großen Salon und erklärte den anderen, daß es noch dauern würde. Der Grund dafür war, das Yrja nach den Krankheiten ihrer Kinderjahre so deformiert war.
Und es dauerte. An diesem Abend wurde kein Weihnachtsfest gefeiert. Statt dessen beschworen sie alle Trolle und die anderen gefährlichen Wesen, die in der Heiligen Nacht unterwegs sein mochten. Wie aufgeklärt die Angehörigen des Eisvolks und der Familie von Meiden auch immer sein mochten - der Aberglaube saß nach wie vor tief in ihnen. Liv saß die ganze Zeit treu an Yrjas Seite und sprach ihr aufmunternd zu, während die anderen draußen waren und Kreuzzeichen machten, als Schutz vor allen bösen Geistern, die sich vielleicht hereinschleichen könnten.
Yrja lag da und dachte nur daran, daß dies ihre einzige und letzte Chance war, ein Kind zu bekommen. Nicht nur, daß Tarald Mumps gekriegt hatte und nun zeugungsunfähig war -das machte sie sogar froh. Denn sie selbst hätte keine weitere Geburt überstanden. Das hatte sie deutlich an Tarjeis Gesicht ablesen können. Jetzt oder nie, darum ging es hier. Kolgrim konnte auf Lindenallee wohnen, Cecilie war ja bei ihm. Er war ganz begeistert. Er stand manchmal lange Zeit da Und betrachtete das Bild seiner Großmutter Sol. »Die schöne Hexe«, wie er sie nannte. Er liebte es, das Glasmosaikfenster zu betrachten, das der Maler Benedikt einmal Silje geschenkt hatte, und er hüpfte begeistert von Farbfleck zu Farbfleck, wenn die Sonne durch das Fenster bunte Reflexe auf den Fußboden malte - um sie zu töten, wie er sagte. Und er quälte Trond und Brand, bis sie beinahe wahnsinnig wurden, indem er sie aus den Unvorstellbarsten Verstecken heraus überfiel.
Ansonsten war Kolgrim der einzige, der nicht von der Spannung und der Unruhe geprägt war, wie es Yrja wohl ergehen würde. Das ganze Weihnachtsfest war in seinem Ablauf gestört, das Gesinde saß da wie gelähmt und wartete auf die letzten Neuigkeiten, die Mahlzeiten wurden fast alle übersprungen, und Tarald war so nervös, daß er kurz davorstand, aus der Haut zu fahren. Einige Male, als der Druck gar zu groß wurde, war er aus dem Zimmer gegangen, aber ansonsten verhielt er sich sehr viel reifer als beim letzten Mal. Er blieb bei Yrja, um ihr beizustehen, so lange er konnte, und er litt mit ihr, fest entschlossen, diesmal nicht feige zu sein und sie im Stich zu lassen. Seine psychische Stärke wuchs in diesen Tagen deutlich heran.
Frühmorgens am ersten Weihnachtstag kam Tarjei hinaus in den Salon auf Grästensholm und nickte dem halb schlafenden Dag zu.
»Gratuliere, Onkel Dag! Ihr seid wieder Großvater geworden!«
Das kam völlig überraschend für Dag, er hatte überhaupt keinen Lärm von drinnen gehört.
»Was denn, schon vorbei, was ist es denn, alles gut gegangen?« »Aber ja, es ging schließlich recht gut, und Yrja hat einen prächtigen Jungen bekommen.«
»Noch ein Enkelsohn? Kann ich hinein?« »Ja, nur zu! Aber nicht zu lange, Yrja ist sehr erschöpft!« »Das kann ich mir vorstellen! Aber wenn es so schwierig war, sollte sie vielleicht nicht noch mehr Kinder bekommen? Obwohl es ja nicht so einfach ist, das zu verhindern.«
»Sie bekommt keine weiteren Kinder, das ist also kein Problem. Tarald hat durch das Mumps-Fieber im vergangenen Sommer seine Zeugungskraft verloren.«
Dag sah ihn prüfend an. »Du weißt sicher eine Menge, was?« Da lächelte Tarjei, der Junge mit dem seltsamen Gesicht. Dag schlich sich in das Wochenzimmer. Dort herrschte eine andächtige, glückliche Stille. Die Stille des ersten Weihnachtstages. Yrja lag erschöpft in den Kissen, mit geschwollenem, rotgeflecktem Gesicht und schweißnassen Haaren. Schön sah sie nicht aus, aber Tarald war bei ihr, tupfte ihr den Schweiß von der Stirn und betrachtete sie mit dem Ausdruck der tiefsten Liebe, die Dag jemals gesehen hatte. Er fühlte einen Klumpen im Hals.
Die Hebamme, mit einem erschöpften und glücklichen Lächeln im Gesicht, zeigte zum anderen Ende des Raumes, wo Liv über die Wiege gebeugt stand. Seine Frau winkte ihn zu sich, Ihre Augen strahlten.
Dag beugte sich hinunter. Da lag ein kleines Würmchen, still und stumm mit weichen, feinen
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