Die Saga vom Eisvolk 04 - Sehnsucht
Himmels ausstieß. Schließlich ließ er sich willig einfangen, und sie tat so, als ob sie ihn grün und blau hauen wollte, und danach durfte er eng an sie geschmiegt neben ihr sitzen, während sie frühstückte. Die anderen baten sie besorgt, sich nicht von ihm vereinnahmen zu lassen, aber sie behauptete, daß die Kinder des Königs ihr ausreichend Übung verschafft hätten. Sie konnte auch nicht verstehen, warum er abstoßend sein sollte. »Ich weiß gar nicht, wo ihr eure Augen habt«, sagte s »Seht ihr nicht, daß aus ihm mal ein Frauenbetörer ersten Ranges wird? So ein faszinierender, erschreckend häßlichschöner Mann ist doch absolut unwiderstehlich.«
Darin hatte Cecilie sicher recht. Allerdings mußte man ein Auge für so etwas haben, um den kommenden Frauenliebling in Kolgrims eigenartigen Gesichtszügen zu erkennen, aber wenn Sol ihr Enkelkind hätte sehen können, dann hätte sie ihn sofort wiedererkannt. Im Laufe der Zeit würde Kolgrim jenem Mann immer ähnlicher werden, den sie während der Seance in Ansgars Klyfta getroffen hatte. Dem phantastisch gutaussehenden Ahnen mit den frostkalten Augen. Der so verführerisch attraktiv ausgesehen hatte, daß Sol vor lauter Glück erschauert war - bis sie den abgeschlagenen Frauenkopf in seiner Hand entdeckte.
Die Gesichtszüge dieses Mannes waren es, die sich langsam in Kolgrims anfangs so groteskem Gesicht formten. »Hast du heute schon einen richtigen Streich gespielt?«, fragte Cecilie ihn manchmal. »Du weißt doch, was ich mit Streich meine? Niemandem schaden, weder Mensch noch Tier, denn das ist einfach dumm und nichts für einen so klugen Jungen wie dich. Aber zum Beispiel die Gardinen zusammenknoten oder Großvaters Pantoffeln verstecken oder sowas.«
Am nächsten Morgen hatte Kolgrim einen Riesenknoten aus seinen Bettüchern geknüpft, und Yrja tobte.
»Ruhig Blut«, lächelte Cecilie. »Der Junge braucht ein Ventil für seine rohen Kräfte. Das ist doch viel besser, als wenn er sie an Menschen und Tieren ausläßt. Aber das heißt nicht, daß du das wieder in Ordnung bringen mußt, liebe Yrja. Komm, laß mich den Knoten aufmachen, du setzt dich jetzt hin und ruhst dich aus.«
Yrja gehorchte dankbar. Cecilie ging zu ihr und strich ihr rasch über die Wange.
»Ich bin so froh, daß du meine Schwägerin bist«, flüsterte sie zärtlich. Yrja konnte nur nicken, sie war ganz gerührt.
Während des Mittagessens warf Kolgrim Cecilie seine Schüssel mit Brei ins Gesicht, um zu sehen, ob sie wütend würde. Als sie statt dessen ihre eigene Schüssel in sein Gesicht drückte, blieb ihm die Luft weg vor lauter Überraschung. Dann platzte er vor Wut, denn Humor besaß er nicht die Spur. Aber sie konnte ihn wieder beruhigen. Cecilie putzte sich selbst und den Jungen sauber und nahm ihn auf den Schoß. »Du und ich, Kolgrim, wir sind aus dem selben Holz geschnitzt«, sagte sie. »Wir sind Kinder des Eisvolks, alle beide.«
»Cecilie, du solltest ihm gegenüber besser nicht vom Eisvolk sprechen«, warnte Liv.
»Warum denn nicht? Warum sollten wir eine edle, gute Ader in uns verleugnen? Dann können wir die weniger guten Eigenschaften des Eisvolks doch besser wegstecken. Weißt du, Kolgrim, daß deine Großmutter zaubern konnte?« »Genug, Cecilie!« sagte ihr Vater Dag.
Sie ließ sich von seinem Einwurf nicht stören. »Doch, das konnte sie. Sie war eine richtige Hexe.« Der Junge lauschte gebannt. »Viele Angehörige des Eisvolks waren Hexen und Zauberer. Mein Großvater war auch ein Zauberer, aber er machte sich nicht viel aus dem Zaubern.« »Dumm!«
»Nein, das war gar nicht so dumm. Aber du darfst nie vergessen, daß du auch ein von Meiden bist. Ein kleiner Baron. Gott im Himmel, und was für ein Baron!«, murmelte sie. »Von Meiden ist Mist«, verkündete Kolgrim. »Ich bin Zauberer.«
»Wohl kaum! Deine Großmutter - sie war sehr schön, sagt man - konnte Sachen bewegen, indem sie sie einfach nur anstarrte, das haben dein Großvater Dag und deine Großmutter Liv erzählt.«
Kolgrims Augen wurden kugelrund. »Sachen bewegen? Wie denn?«
»Schau mal, du siehst doch da die kleine Schüssel… sie konnte so eine Schüssel, indem sie nur ganz fest daran dachte, zu mir herüber wandern lassen. Verstehst du?« Der Junge starrte die Schüssel so konzentriert an, daß er schielte. »Beweg dich, du blöde Schüssel! Aber sie rührt sich kein bißchen«, maulte er.
»Nein, hast du das wirklich geglaubt? Deine Großmutter Sol hat viele, viele Jahre
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