Die Saga vom Eisvolk 05 - Todsünde
war noch nicht einmal geboren. Wenn es denn nicht der kleine, heiligenhaft sanfte und zurückhaltende Mattias, Kolgrims Halbbruder, war. Tarjei selbst hatte ihm mit auf die Welt geholfen.
Aber es würden gewiß noch mehr Kinder in den Familien von Meiden und vom Eisvolk geboren. Vielleicht seine eigenen Kinder oder Enkel. Nein.
Damit war Schluß, Tarjei spürte es. Er hatte keine Kraft mehr, noch nicht einmal, um etwas Eßbaren im Wald zu suchen. Und wo sollte er das auch so früh im Jahr finden?
Ein paar Nüsse in einem Haselwald waren das letzte, was er zu sich genommen hatte - und das war mehrere Tage her.
Ich muß weiter, dachte er. Irgendwo mußte es Hilfe geben.
Das war eine trügerische Hoffnung, das wußte er. Niemand wagte, mit Fremden zu sprechen. Sie waren bei der armen Zivilbevölkerung zutiefst verhaßt.
Der heilige Schatz des Eisvolkes … Er mußte weiter! Doch erst noch eine Weile schlafen. Er war so müde… Der Boden war nach der Winterkälte noch immer hart. Tarjei spürte es, konnte aber nichts dagegen machen. Sein Körper und seine Sinne glitten in eine friedliche Gefühllosigkeit.
Hier hätte die Saga über alle Geheimnisse des Eisvolkes enden können, wenn nicht etwas Unerwartete geschehen wäre.
Tarjei hörte, wie jemand aus weiter Ferne rief, doch er konnte sich nicht rühren.
Es war eine zarte Stimme, vor Ungeduld gereizt. »Warum liegst du da?« fragte die Stimme auf deutsch. »Antworte doch, dummer Mann!«
Tarjeis Bewußtsein bemühte sich vergeblich, zu erwachen.
»Du mußt mir helfen!« piepste die Stimme noch ungeduldiger. Jemand rüttelte ihn.
Endlich schlug er seine Augen auf, mußte sie gleichsam aufreißen. Wie lange er dort gelegen hatte, wußte er nicht, aber sein Körper war steif vor Kälte, und er war so erschöpft, daß er nicht imstande war, auch nur eine Hand zu rühren.
Undeutlich erahnte er eine kleine Person, die im Licht der gefrorenen Frühlingssonne stand.
»Na, das wurde aber auch Zeit«, sagte die wütende Stimme. »Ich habe schon gedacht, du bist tot!«
»Das habe ich auch gedacht«, stammelte er auf deutsch. »Wer bist du?«
»Du darfst zu mir nicht du sagen, dummer Mann!« sagte das kleine Wesen, das sich als kleines Mädchen im Alter von neun Jahren entpuppte. Als Tarjeis Blick klar genug geworden war, sah er ihre elegante Kleidung, nur war sie schmutzig und ihr Haar von Tannennadeln und welken Blättern übersät.
»Und wer bist du?« fragte sie. »Wenn du einer von diesen gemeinen Söldnern bist, darfst du mir nicht helfen. Dann spreche ich nicht mit dir.«
»Nein, ich ein norwegischer Heilkundiger, und ich habe mit dem Krieg nichts zu tun.«
»Du bist heilkundig? Das ist hervorragend, denn ich habe mir das Bein gebrochen.«
Das Bein gebrochen? Und stehst dann so ruhig da? Oh, nein, du nicht, dachte Tarjei.
»Du hast dich noch immer nicht vorgestellt, Heilkundiger.«
»Mein Name ist Tarjei Lind vom Eisvolk«, murmelte er müde und irritiert und schloß die Augen. Was für ein Mädchen! Fordert, man solle sich ihr vorstellen, wenn man gerade im Sterben liegt!
Er sagte Lind vom Eisvolk, denn sich so zu nennen, hatte die Familie am Ende beschlossen. Lind nach dem Gut Lindenallee - und auf den Namen Eisvolk wollten sie nicht verzichten, auch wenn Großvater Tengel den Namen gehaßt hatte. Es war schon so lange her, daß die Bewohner von Trondelag Jagd auf das Eisvolk gemacht hatten, um sie zu töten, und so weit entfernt. Niemand konnte sich mehr an die gefürchtete Sippe von Hexen und Zauberern erinnern.
»Lind vom Eisvolk? Das klingt adelig«, sagte die junge Dame gnädig.
»Ja«, sagte Tarjei wahrheitsgemäß, denn es klang zweifelsfrei adelig. »Und wie heißt du?«
»Du darfst nicht zu mir sprechen!« sagte sie und stampfte mit dem Fuß auf - den sie sich doch gebrochen haben wollte. »Ich bin doch die Baroneß Cornelia! Mein Großvater ist der Graf Georg von Erbach zu Breuberg. Mein Vater und meine Mutter sind tot, deshalb wohne ich bei Tante Juliana.« »Und nun soll ich deinem Fuß helfen?«
»Du darfst nicht du zu mir sagen! Das darf niemand.« »Das mache ich, wie ich will«, murmelte Tarjei, noch immer mit geschlossenen Augen.
»Dann gehe ich weg«, antwortete sie und kehrte ihm den Rücken zu.
»Gern. Dann kann ich wenigstens in Ruhe sterben. Du jedenfalls kannst mir nicht helfen, du bist bloß ein selbstsüchtiges, uninteressantes, schnippisches Ding.« Ihre Gnaden Cornelia von Erbach zu Breuberg gedachte zuerst, tüchtig
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