Die Saga vom Eisvolk 05 - Todsünde
»Eine hart gesottene kleine Kröte.« »Du bist dumm!« »Nicht so dumm wie du.«
»Das werde ich Tante Julianas Mann erzählen. Er ist Oberkommandant in Erfurt, und er läßt dich auspeitschen.«
»Ach wirklich, das macht er also mit Leuten, die dir helfen? So, nun werde ich nur noch den Verband befestigen, dann bist du fertig. Du warst übrigens ganz tapfer.« Das Lob freute sie. »Komm doch«, sagte sie und streckte ihm die Hand entgegen, um ihm auf die Beine zu helfen. »Ach, du kannst ja noch nicht einmal auf den Beinen stehen! Gib her, ich nehme deine Tasche.«
»Nein, die trage ich selbst«, sagte Tarjei und hielt sie fest, während er sich am Baum abstützte, wohlwissend, daß seine Kräfte nicht bis zum Ziel reichen würden. »Ist es weit?« »Neihein! Bloß hinter dem Hügel dort.«
Die mühsame Wanderung nahm ihren Anfang. Beide humpelten beinahe gleich stark. Und es endete damit, daß das kleine Wesen ihn stützen mußte, Schritt für Schritt. Sie genoß es sichtlich, die barmherzige Samariterin zu spielen. Offenbar eine neue Erfahrung für das verwöhnte, egozentrische Kind.
Oder vielleicht war es auch falsch, über sie ein solches Urteil zu fällen? Sie war ein Kind ihrer Zeit und ihrer gesellschaftlichen Klasse. Die Kluft, die zwischen Adel und Bürgertum bestand, war himmelweit. Allein die von Meidens waren auf diesem Gebiet liberal. Für die kleine Cornelia war es ganz natürlich zu glauben, daß andere Menschen ihretwegen da waren. Tarjei mit seiner mangelnden Würde hatte sie aufgerüttelt. Widerwillig war sie imponiert - oder besser gesagt: Sie wollte gern Eindruck auf ihn machen, und das tat sie offensichtlich nicht, indem sie groß oder überlegen tat.
»Ich kann dir sagen, Cornelia«, sagte er versöhnlicher, »daß nicht viele erwachsene Männer die Stiche so geduldig ausgehalten hätten wie du.«
Sie arbeitete hart daran, nicht gleichgültig auszusehen. Sie war so unendlich stolz gewesen und brachte dem Lobpreisenden sogleich nicht ganz willkommene Sympathie entgegen.
Tarjei staunte, als sie über den Hügel gelangten. Vor ihnen lag ein kleines Dorf - und unweit davon, auf einem Abhang lag ein Schloß, dem das Dorf unterstand. Hoch oben, recht neu und sehr schön. Weiter unten im Tal war eine große Stadt zu erahnen. Er fragte das Mädchen nach dem Namen dieser Stadt.
»Weißt du das nicht einmal? Das ist Erfurt!«
Eine andere Universitätsstadt! Nun denn, dann wußte er zumindest, wo in Deutschland er war. In Sachsen. Mitten im Grenzland zwischen Katholiken und Protestanten. Kein Wunder, daß es um ihn herum turbulent zuging! »Bist du Katholikin oder Protestantin?« fragte er das Mädchen.
»Du glaubst wohl nicht, daß ich Katholikin bin?« sagte sie empört. »Sie sind Papisten!«
Oh, Gott sei dank, auch wenn Tarjei nicht sonderlich religiös war, zählte er sich dennoch zu den Protestanten. Es wäre für ihn nicht ratsam gewesen, in ein katholisches Lager zu geraten.
Hier schien kein Krieg gewütet zu haben. Und so nah war er also einem ganzen besiedelten Tal gewesen! Nur ein kleiner Waldhügel lag dazwischen.
Nach unendlich langer Zeit erreichten sie das große Portal in der Schloßmauer, und er lehnte sich schwerfällig dagegen, um für eine Weile Atem zu schöpfen. »Na, nun komm schon«, sagte das Mädchen gefühllos. »Wir wollen weiter.«
Sie gingen weiter, er gestützt auf ihre zarten, aber wohl abgerundeten Schultern, als eine Menschenmenge aus dem Schloß kam.
»Cornelia, liebes Kind, wo bist du gewesen?« sagte eine junge Dame.
»Ich war nur draußen nach den Frühlingsblumen gucken, Tante Juliana«, rief das Mädchen mit der etwas rührselig fürsorglichen und selbstgerechten Stimme einer Samariterin. »Und ich habe mir beim Fallen das Bein gebrochen, und dieser arme Mann hier hat es repariert. Hat meine Haut wieder zugenäht! Und ich habe ihn gerettet, er ist ein Edelmann und heilkundig und hat viele Wochen nichts gegessen, und er ist kein Söldner, bloß ein bißchen dumm.«
Die Leute aus dem Schloß hatten das Mädchen erreicht und schnatterten wie wild durcheinander, hoben sie hoch, während Tarjei am nächsten Parkbaum Halt suchen mußte. Dort sank er langsam den Stamm hinab, mit Cornelias schneidender Stimme im Ohr, als sie mit ihrer Erzählung darüber, wie außerordentlich tapfer sie war, versuchte, alle anderen zu übertönen.
Dann erinnerte er sich an nichts mehr, bis er in einem Zimmer im Schloß erwachte. Ein Tisch stand neben der Liege, auf der
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