Die Saga vom Eisvolk 05 - Todsünde
Arme kraftlos. Die Beine spürte er überhaupt nicht. Alexander hatte eine unklare Wahrnehmung, manchmal ein Gesicht über sich zu sehen. Ein freundliches Gesicht, mit Zügen und Augen, die er glaubte, irgendwo schon einmal gesehen zu haben. Oder vielmehr: Sie erinnerten ihn an jemanden. Die sanfte Stimme hatte zu ihm gesprochen, glaubte er. Doch er war nie imstande gewesen zu antworten. Nun hörte er diese Stimme wieder, aber weiter fort im Zelt, so daß er nicht mehr als ein schwaches Murmeln vernehmen konnte.
Alexander sank halbwegs wieder in Halbschlaf. Jemand in seiner Nähe rief etwas:
»Tarjei!« rief ein junger Mann jammernd. »Tarjei, komm her! Jetzt sterbe ich - ganz bestimmt.
Die herzliche Stimme antwortete, in einer Sprache, die er nur teilweise verstand: »Ruhig, Jesper, alles ist in Ordnung mit dir. »Tarjei?« Mit einem Mal war Alexander hellwach. Ein so ungewöhnlicher Name wie Tarjei … Cecilies heilkundiger Vetter?
Natürlich! Es war Cecilies norwegischer Akzent, der zu hören war. Es waren ihr Gesicht und ihre Augen, die er in dem jungen Arzt wiederzuerkennen glaubte. Er versuchte zu rufen.
Tarjei war hellhörig und kam sogleich zu ihm. »Ihr seid jetzt also wach. Das ist gut.«
Er mochte den jungen Mann sofort. Ein so sympathisches Gesicht hatte er selten gesehen. Die Augen hatten eine suggestive Schräglage, und der Mund hatte ein freundliches, faunartiges Lächeln.
»Du mußt Cecilies Vetter Tarjei sein«, brachte er mit rauher Stimme hervor.
Der Arzt sah verwundert aus. »Ja. Kennt Ihr sie denn?«
»Sie ist meine Frau«, lächelte Alexander.
»Cecilie ist verheiratet? Das wußte ich nicht. Ich habe sie letzte Weihnachten gesehen, und da …«
»Wir haben im Februar geheiratet. Mein Name ist Alexander von Paladin.«
»Nein…«, Tarjei konnte seine Bestürzung nicht verbergen.
Alexander lächelte verbittert. »Ich sehe, sie hat meinen Namen erwähnt. Du warst es, der sie aufgeklärt hat über meine Eigenheit, nicht wahr?« Der junge Mann nickte.
»Ich verstehe das nicht«, sagte er verunsichert. »Es war eine Vernunftehe. Mir stand der Galgen bevor, und sie hat ein Kind erwartet. Wir haben uns gegenseitig gerettet.«
Diesem jungen Mann konnte er es sagen. Tarjei war von Anfang an eingeweiht gewesen.
»Cecilie hat ein Kind erwartet? Was in aller Welt…?« »Ja. Aber sag niemandem, daß es nicht meins war, bitte! Wir wollen nicht, daß die Leute es erfahren. Keiner von uns. »Nein, natürlich nicht.« Tarjei grübelte nach. »Aha«, sagte er dann. »Was ist?«
»Nichts, ich habe nur nachgedacht, darüber …Wir hatten einen Freund, der letzte Weihnachten vollkommen von Cecilie verzaubert war. Er ist dir sehr ähnlich. Und sie war sehr unglücklich wegen dem, was ich ihr gesagt hatte – über dich.« »Ein Pastor?« Tarjei nickte.
»So war das«, sagte Alexander. »Cecilie hat das Kind vor kurzem verloren. Ich habe gerade in einem Brief davon erfahren.«
»Arme Cecilie«, flüsterte Tarjei vor sich hin.
»Ja, das hat auch mir leid getan. Um ihretwillen - aber auch um meinetwillen. Ich war bereit, das Kind als meines anzuerkennen.«
Tarjei schwieg mit hochgezogenen Augenbrauen. Alexander war erstaunt über den unmittelbaren Kontakt, den sie zueinander hatten.
Er ist Cecilies Vetter, dachte er, ohne sich klar zu machen, was er damit ausdrücken wollte. Ob der Gedanke eine Erklärung oder eine Warnung enthielt.
»Nun?« lächelte er unsicher. »Wie ist es um mich bestellt?« »Das würde ich auch gern wissen. Wie…?«
Sie wurden unterbrochen, als Brand hereinkam, um Jesper zu besuchen, der neben Alexander lag.
»Brand, komm her und begrüße Cecilies Mann«, sagte Tarjei. »Das ist mein jüngerer Bruder, aber Trond… ist vor einigen Tagen gefallen. Und der kleine Flachskopf im Bett nebenan ist der Nachbarssohn Jesper.«
»Seid Ihr verletzt worden, Oberst?« sagte Brand, der die Rangabzeichen auf seinem Mantel an der einfachen Pritsche entdeckte.
»Nenn mich Alexander! Gehör ich denn nicht jetzt zur Familie?«
»Natürlich. Willkommen!« lächelte Brand langsam. »Danke! Ich habe gerade deinen Bruder gefragt, was mir fehlt.«
Tarjei sah mit einem Mal sehr berufsmäßig aus. »Du kannst sprechen und deinen Kopf, deine Augen und deine Arme bewegen, sehe ich. Das ist gut. Hast du Schmerzen?« »Nein, überhaupt keine.« Das habe ich befürchtet, dachte Tarjei. »Kannst du die Füße bewegen?«
»Ich spüre sie noch nicht einmal«, lächelte Alexander. Zutiefst besorgt
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