Die Saga vom Eisvolk 06 - Das böse Erbe
herabgebrannt, und überall lagen Männer und schnarchten. Der Wind klagte nicht mehr.
Eine energische Hand zog ihn mit sich. Sie hasteten auf die Landstraße zu und liefen so schnell es ging, bis der Mann nicht mehr konnte. Er verlangsamte das Tempo, und Mattias war ihm dankbar dafür. Die Beine versagten ihm fast den Dienst. »Warum rennen wir?« sagte er verwundert. »Weil sie dir Böses antun wollen.« Mattias dachte nach. »Heißt Ihr Olaves?« »Ja. Woher weißt du das?«
»Ich habe euch heute nacht gehört. Ich dachte erst, es wäre ein Traum. Oh! Wo sind meine Kleider?«
Er hatte nur ein paar zusammengebundene Fetzen am Leib. Von ihnen stammte der Gestank, den er die ganze Zeit gerochen hatte. Und sie stachen und kratzten. »Sie haben deine Kleider genommen. Wollen sie verkaufen.«
»Die armen Männer! Wie bedürftig sie sein müssen! Und mir wollen sie etwas tun? Warum? Ich kann es nicht glauben.«
»Die Welt ist nun mal so, Junge. Das Gesetz des Lebens. Töten oder getötet werden.«
»Aber warum habt Ihr mir geholfen? Mich gerettet?« »Du hast so seltsame Augen, Kleiner! Irgendwie anziehend. Ich weiß auch nicht, was in mich gefahren ist, denn ich bin nicht gerade ein braves Kind Gottes, aber ich will gut zu dir sein.« »Tausend Dank, Herr Olaves!«
»Herr?« lachte der Mann meckernd. »Daß mir das einer sagt, nee wirklich!«
»Bringt Ihr mich heim? Nach Grästensholm?« »Nach Akershus? Bewahre! Das ist viel zu weit. Nein, ich nehme dich mit zu einem netten Kerl, der Nermarken heißt. Er wird dir Arbeit geben, dann kannst du Geld verdienen, um nach Hause zu fahren. Denn du mußt ja unterwegs auch von irgendwas leben.« »Ist es weit bis Akershus?«
»Weit, fragst du? Könntest ebensogut versuchen, auf blankem Zahnfleisch in den Himmel zu kriechen. Nein, mein lieber, Nermarken ist der einzige, der dir helfen kann.«
Mattias dachte nach. »Dann sage ich Euch tausend Dank für Eure Freundlichkeit, Olaves!«
»Wir gehen also zu Nermarken?« »Ja, das tun wir.« Olaves machte ein zufriedenes Gesicht.
Sie gingen weiter. Als der Morgen dämmerte, bekam Mattias Olaves erstmals zu sehen.
Er sah nicht gerade gut aus. Vierschrötig, unrasiert, verlaust und abgerissen. Seine Augen huschten unruhig hin und her, hielten Mattias' Blick nie stand, und seine Hände hatten sicher seit Jahr und Tag kein Wasser gesehen, so sehr hatte sich der Dreck in die Falten gegraben. Jedenfalls bei der einen Hand. Die andere Hand fehlte völlig. Aber er hatte dem Jungen das Leben gerettet. Sie wanderten den ganzen Tag lang. Nachdem sie eine kleine Stadt mit einem Marktplatz passiert hatten, quollen plötzlich Würste und Brote und Gemüse unter Olaves' Hemd hervor, und Mattias fragte sich begeistert, ob er wohl zaubern konnte. Sie speisten königlich neben einem Bach und setzten mit frischen Kräften ihren Weg fort, bis der Abend kam. Da suchten sie sich einen Schlafplatz, und gegen Ende des folgenden Tages waren sie angekommen.
Mattias schien es schon lange her zu sein, daß sie das Meer gesehen hatten. Aber das letzte Stück Weges waren sie an einem Fluß entlang gegangen.
Unterwegs hatte Olaves aus seinem armseligen Leben erzählt. Wie er als Kind hatte lernen müssen, zu betteln und zu stehlen. Wie viele ungezählte Male er Backpfeifen bekommen hatte. Seine Hand hatten sie ihm als Strafe für einen Diebstahl abgehackt. Und den Pranger? Ja, den hatte er zur Genüge kennengelernt! Er wurde jetzt wohl bald vierzig, nahm er an, und er glaubte selbst nicht, daß er ein langes und glückliches Leben haben würde. »Aber warum sucht Ihr Euch keine Arbeit?«
»Pah! Was glaubst du wohl, wer mich in seine Dienste nehmen würde? Die Hand verrät mich doch.« »Armer Olaves! Und Nermarken, der so nett ist? Kann er denn nicht… ?«
Aber das schlug Olaves sofort in den Wind. Nein, er konnte doch Nermarken nicht mit seiner jämmerlichen Person belasten! Das konnte er doch nun wirklich nicht tun! Aber nun waren sie angekommen.
Mit großen Augen erblickte Mattias einige Holzhütten und merkwürdige Türme und Gerüste. Ein tiefes Loch klaffte in der Erde, wie er bemerkte. Das sah unheimlich aus. Und weiter hinten war ein großes Rad, das Wasser aus der Tiefe heraufschöpfte.
Sie gingen in eine der Holzhütten. Dort saß ein großer, fetter Mann, so fett, daß er über den Stuhl quoll. Das war Nermarken.
Er wandte den Kopf hin und her, um sich zu vergewissern, daß niemand sie hörte.
»So so, du bist also gekommen, um in den
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