Die Saga vom Eisvolk 06 - Das böse Erbe
konnten. Und dann bin ich hierher gekommen… « »Zu Nermarken?«
»Zu dem Lump, ja! Er sagte mir, daß ich viel zu jung wäre - ich war damals erst dreizehn - aber ich war mager und konnte mich durch die schmalen Stellen zwängen. Und hier bin ich nun. Ohne daß irgend jemand dort oben davon weiß.« »Bist du schon zwei Jahre hier?«
»Nein, ich bin noch nicht ganz fünfzehn. Sagen wir mal, gut ein Jahr. Ich habe aufgehört zu zählen. Für mich ist es wie ein ganzes Leben.« »Wir haben jetzt Sommer 1633.« »Was? Aber dann bin ich ja schon fünfzehn! O Gott, was für eine lange Zeit!« »Du hältst dich wacker, scheint mir.«
»Weil ich stark bin, ja, und weil mich kein Unglück erwischt hat. Sören ist auch stark, und er will hier sein.« »Hat er was Schlimmes gemacht?« flüsterte Mattias. »Das kann man wohl sagen«, lächelte Kaleb. »Wenn er nach oben kommt, wartet der Pranger auf ihn - mindestens! Schlimmstenfalls… «
Er machte eine Handbewegung quer über die Kehle. »Aber er ist doch noch ein Kind«, sagte Mattias schockiert.
»Er hat zwei Männer getötet. Um sie ausrauben zu können. Und in dem Fall kümmert man sich nicht um das Alter des Täters.« »Oh«, sagte Mattias matt. »Und Knut?« Kaleb seufzte nur.
»Er ist doch wohl nicht vor dem Landeshauptmann weggelaufen?«
»Nein, nein. Er hat keine Eltern mehr, und da hat man ihn ganz einfach eingefangen und hierher gebracht, weil hier damals zwei Jungs auf einmal gestorben waren. Aber du bist der jüngste, den wir jemals hier hatten. Ich finde es schrecklich, daß sie dich genommen haben. Du gehörst überhaupt nicht hierher.«
Mattias sagte nachdenklich: »Wenn ich heraus komme, werde ich Großvater davon erzählen! Dann kommt er und rettet euch.« »Und bestraft Nermarken und Hauber?«
»Ich finde Bestrafung nicht gut«, sagte Mattias zögernd. »Großvater sagt, Vorbeugung ist besser als Bestrafung - was immer er damit meint. Aber Großvater hat immer Recht.« »Wer ist eigentlich dein Großvater?«
Mattias flüsterte: »Ich durfte es gegenüber Nermarken nicht erwähnen. Aber dir kann ich es ja sagen. Er ist Amtsrichter in Akershus.«
Kaleb blieb eine Weile stumm. »Gütiger Gott«, flüsterte er. »Was haben sie nur getan? Erzähl das bloß keinem anderen! Denn sonst passiert dir ein Unfall, verlaß dich drauf! Du würdest ihnen allzu lästig werden.« »Aber die Männer, die hier arbeiten, die sind wohl nett?« »Doch, schon, aber sie müssen an ihre eigene Arbeit denken. Hauber hat sie unter seiner Knute. Viele von denen sind Ausländer, die verstehen unsere Sprache nicht. Andere wiederum sind zwangsverpflichtete Bauern, die tageweise hier arbeiten. Einige der Hauer, wie man die Bergleute nennt, sind in Ordnung. Du wirst schon herausfinden, welche. Den Steiger kennst du, das ist Hauber, und er ist der Teufel in Person. Die Scheider wirst du nie treffen, sie reinigen das Erz außerhalb der Grube. Die können uns also nicht helfen…« »Kaleb, ich glaube, ich habe Läuse!« »Die hast du bestimmt.«
»Ach, was wird Mutter nur dazu sagen? Und Großmutter erst, die immer so genau mit allem ist!«
Kaleb schluckte. »Wir werden morgen versuchen, deine Kleider zu waschen, und dich selbst auch, von Kopf bis Fuß, wenn es geht.« (Woran er erhebliche Zweifel hatte.) »Ich fühle mich so miserabel!«
»Was du nur alles für Wörter kennst«, lächelte der ältere Junge. »Aber jetzt mußt du schlafen.« »Mhmm… Du, Kaleb?« »Ja, was ist?«
»Ich will nicht kindisch oder lästig sein, aber könntest du vielleicht meine Hand halten? Nur heute nacht?« »Klar, kann ich machen.«
Mattias fühlte, wie eine große Hand sich um seine kleine schloß. Eine große, starke Hand, schartig und rauh von der Arbeit und von schlecht verheilten Wunden. Armer kleiner Wurm, dachte Kaleb.
4. KAPITEL
Mattias bekam schnell Schwielen an den Händen und dickere Haut an den Knien. Das Fluchen, das gewöhnte er sich nicht an, denn er wußte, daß es Sünde war, aber ansonsten versuchte er, sich seiner Umgebung anzupassen, so gut es irgend ging.
In der ersten Zeit weinte er sich jeden Abend in den Schlaf. Er dachte an alle Lieben daheim, wie besorgt sie sein mußten, und er sehnte sich, sehnte sich hinauf in das Licht und die Freiheit.
Später lernte er, sein Los zu akzeptieren. Aber er resignierte nicht. Natürlich bekamen sie zu essen. Obwohl die Tagesration so knapp bemessen war, daß sie nicht annähernd satt machte. Es gab dünne, kalte Suppe oder
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