Die Saga vom Eisvolk 06 - Das böse Erbe
und das einzige, was er gegessen hatte, waren Himbeeren und Brombeeren, die am Wegesrand wuchsen. Einen schönen Stock hatte er auch gefunden, für den Fall, daß ihm Raubtiere begegneten.
Gegen Abend sah er ein Lagerfeuer auf einer Lichtung im Wald. Er ging hin und fragte die fünf Männer höflich, ob er sich eine Weile aufwärmen dürfte.
Die Männer sahen nicht sehr freundlich aus, aber sie lachten und fragten sich, was für ein seltsamer kleiner Kerl er wohl sein mochte.
Er erklärte höflich - wie er es gelernt hatte - daß er Mattias von Meiden hieß und acht Jahre alt war, und daß er heim nach Grästensholm wollte.
Auch diese Männer hatten den Namen nie gehört, aber sie wiesen ihm einen Platz auf einem Baumstubben am Feuer.
Sie waren bärtig, abgerissen und schmutzig. Einer von ihnen, schrecklich anzusehen mit seinem einen Auge, rückte dicht an ihn heran und befummelte mit dreckigen Fingern seine Samtjacke. Der Mann pfiff leise.
»Wo hast du die Sachen gemopst, Bürschchen?« »Das sind meine«, sagte Mattias erstaunt. »Vater und Mutter haben sie für mich nähen lassen.«
»Sooo«, sagte der Mann mißtrauisch. »Was für ein hohes Tier ist dein Vater denn?«
»Papa? Der ist kein hohes Tier. Er ist nur der Eigentümer von Grästensholm. Aber Großvater ist Amtsrichter in Akershus. Und wir sind Barone, alle drei. Mein Bruder auch, aber er ist fort.«
Wieder füllten sich seine Augen mit Tränen über Kolgrims unglückliches Schicksal.
Der Mann war beim Wort »Amtsrichter« unwillkürlich von ihm abgerückt.
»Was du nicht sagst! Und was machst du hier, wenn du doch in Akershus wohnst?«
Mattias antwortete treuherzig und wohlerzogen, erzählte die ganze traurige Geschichte von dem Boot und den Fischen und Kolgrims tragischem Verschwinden. »Und wo ist dein Prahm jetzt?« »Den habe ich verschenkt.« Die Männer sahen enttäuscht aus.
Einer von ihnen sagte mit einem Grinsen, das freundlich wirken sollte: »Jetzt schlaf nur, mein Junge. Komm, leg dich ans Feuer, wir werden schon auf dich aufpassen.« Mattias gehorchte artig, wollte nicht zeigen, daß er hungrig war. Es wäre unhöflich gewesen, zu klagen, so freundlich, wie die Männer waren.
Er schlief sofort ein, getröstet von der Überzeugung, daß er auf dem Weg heim zu Vater und Mutter war. Das letzte, was er hörte, war das klagende Seufzen des Windes in den Baumkronen…
Mattias erwachte nicht ganz, dazu war er viel zu müde. Aber im Halbschlaf spürte er, daß jemand ihn auszog. Mutter, dachte er mit einem Lächeln. Ich bin daheim bei Mama, und sie zieht mich aus, weil ich einfach so eingeschlafen bin.
Jetzt zieht sie mir mein Nachthemd an. Aber das riecht heute nicht besonders gut. Am besten setze ich mich wohl hin. Nein, ich schaffe es nicht.
Er hörte Stimmen. Flüsternde, heisere Stimmen. Und Mutter hatte vergessen, das Fenster zu schließen. Es zog kalt herein. Aus weiter Ferne klang ein trauriges Lied herüber, es hörte sich an wie in der Kirche. Nein, es war kein Lied, es war etwas anderes, ihm fiel nur im Moment der Name nicht ein.
»He, ist doch klar, daß wir den abmurksen müssen«, sagte eine der Stimmen, sie hörte sich nicht sehr nett an, fand er. »Der hat uns doch gesehen.«
»Aber das ist so ein kleiner Wicht«, sagte eine Stimme in derselben Mundart, wie Mattias sie sprach. Die anderen Stimmen redeten so wie Mads. Mads? Wer war das noch gleich?
»Haste nich kapiert, Olaves! Dem sein Opa ist Amtsrichter.«
»Dann könnten wir doch vielleicht Finderlohn fordern?« sagte ein anderer.
»Blödmann! Wir können doch wohl kaum zu irgend einem Amtsrichter gehen! Nu macht schon, so ein kleines Hahnenküken wie der hat einen dünnen Hals. Kann man leicht, umdrehen.«
»Nein, wartet«, sagte die Stimme, die Olaves gehörte. »Warum verkaufen wir ihn nicht an Nermarken? Der zahlt gut.«
»Nermarken? Der ist doch meilenweit weg! Meinst du etwa, wir sollen das Bürschchen bis dahin mitschleppen?« »Hast ja recht«, sagte die Stimme von Olaves. »Dann los, gib ihn mir! Ist lange her, daß wir Küken zum Halsumdrehen hatten. Ich brauch ein bißchen was zum Üben!« Mehrere Stimmen lachten. Mattias hielt es für einen unangenehmen Traum und wollte gerne aufwachen. Statt dessen versank er noch tiefer in Schlaf… Jemand schüttelte ihn.
»Wach auf!« flüsterte eine Stimme. »Und sei still! Schnell, bevor die anderen wach werden!«
Mattias gehorchte, verwirrt und schlaftrunken. Die Nacht war finster, das Feuer fast
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