Die Saga vom Eisvolk 06 - Das böse Erbe
da denn so seltsam, daß Mattias ein solch feiner kleiner Junge war?
Kaleb war ungewöhnlich stark. Er hatte die vier Jahre in der Grube ohne größere Schäden ertragen. Steine waren auf ihn herabgefallen, seine Hände waren voller Narben und seine Fingernägel beinahe fort, aber das waren Bagatellen.
Aber alle drei kannten den Grund, warum sie diese naßkalte, finstere Hölle so lange überstehen konnten - weil sie immer zusammengehalten hatten. Ihr Mitgefühl, ihre Hilfe und ihr Trost, wenn einer von ihnen sich verletzt oder den Lebenswillen verloren hatte. Ihre stete Achtsamkeit, daß der andere nur nicht die nötige Vorsicht vergaß, das Wichtigste bei ihrer gefährlichen Arbeit. Sie konnten ihr Glück noch gar nicht richtig fassen - daß sie frei waren!
Sie erreichten die Almhütte, als es schon spät am Tag war.
»Aber dürfen wir wirklich hier hinein?« sagte Mattias unsicher, als Kaleb das Schloß aufbrach.
»Not kennt kein Verbot«, antwortete der Kamerad. »Wir müssen über Nacht ins Haus, und hierher kommt zu dieser Jahreszeit keiner. Sieh doch, keine Spuren im Schnee, und der Heuschober ist leer, sie haben das Winterfutter schon geholt. Und den Winterweizen schaffen sie immer mit Schlitten herunter. Jetzt ist der Schnee fast überall weg.«
Drinnen gab es Feuerholz, und unter dem Dach hingen vier leckere Schinken und zwei Lammkeulen. Mehl gab es auch und noch viele andere nützliche Sachen. »Ich glaube, es hat niemand etwas dagegen, wenn wir ein bißchen davon essen«, sagte Kaleb. »Es ist üblich, daß Menschen in Not Schutz in einer Almhütte suchen.« »Und wir können dafür bezahlen, wenn wir erst zu Hause bei uns angekommen sind«, sagte Mattias, der nie etwas schuldig bleiben wollte. »Das machen wir«, sagte Kaleb.
Er machte Wasser in einem großen Kessel heiß, und dann badeten sie in einem Zuber. Einer nach dem anderen wurde mit Lappen und Birkenreisig sauber geschrubbt und in ein Schaffell gewickelt, die sie sich von den Bettstellen holten, solange ihre eigenen zerrissenen, aber gewaschenen Kleidungsstücke über dem Feuer trockneten.
Anschließend saßen sie in ihre Felle gekuschelt und aßen eine ordentliche Mahlzeit und sahen sich an und lachten und fühlten sich wohl.
»Aha, so siehst du unter dem ganzen Schwarzen also aus, Mattias«, sagte Kaleb. »Ich wußte gar nicht, daß du rote Haare hast!«
Knut grinste. »Ich habe immer gedacht, du wärst ein kleiner Engel, der sich verlaufen hat, Mattias. Aber das glaube ich jetzt nicht mehr. Denn rothaarige Engel…? Nein, die gibt's nicht!« »Siehst du mich denn?« quiekte Mattias.
»Nein«, antwortete Knut. »Ich kann sehen, daß du da sitzt. Daß du dich ab und zu bewegst. Mehr erkenne ich nicht.«
»Das wird bestimmt bald besser, du wirst schon sehen«, tröstete Mattias. »Du mußt viel Speck essen, das sagt Tarjei immer. Speck ist gut für die Augen. Tarjei weiß das alles. Er kann alle deine Krankheiten heilen, wenn wir erst da sind.« »Den Husten auch?« i »Klar! Alles!«
Kaleb schlug die Augen nieder, damit Mattias die Beklemmung und das Mitgefühl in seinem Blick nicht sehen sollte.
»Und daß du so helle Haare hast, Kaleb, das konnte man da unten ganz gewiß nicht ahnen«, lachte Mattias. »Und du bist ja schon ein erwachsener Mann!« »Na ja, siebzehn ist noch nicht viel.«
Mattias betrachtete bewundernd die Muskeln, die unter der Haut an Kalebs Armen spielten. Sein Gesicht war kräftig und sympathisch, mit verblüffend blauen Augen. Ein feiner, blonder Bart bedeckte - oder würde es einmal tun - Kinn und Oberlippe.
Knut dagegen bot einen traurigen Anblick. Er hatte große Büschel seines aschblonden Haares verloren, und sein Gesicht war übersät mit großen, schorfigen Ausschlägen. Die Augen waren matt, der Körper ausgemergelt und der Brustkasten eingefallen. Die Kniegelenke waren von der Gicht angeschwollen, und Hände und Füße waren schrecklich anzusehen, mit offenen Wunden bis auf die Knochen.
Tarjei würde viel Arbeit bekommen, wie Mattias betrübt einsah.
»Mann, wie unsere Haut aussieht«, seufzte er. »Graubleich mit schwarzen Furchen. Wir werden bestimmt nie wieder sauber.«
»Ach doch, noch ein paar solcher Bäder mit richtig Einweichen und Schrubben, dann sind wir wieder wie neu«, meinte Kaleb.
»Na, vielen Dank«, schnaubte Knut. »So fest wie du reibst, haben wir dann überhaupt keine Haut mehr!« »Viel hilft viel«, grinste Kaleb. »Aber das überlebt keine Laus und kein Floh, da geb ich
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