Die Saga vom Eisvolk 06 - Das böse Erbe
die halten wohl noch Winterschlaf.« Kaleb lächelte leicht. »Ich habe schließlich einen Schutzengel bei mir.«
Sie dankten der Frau und machten sich wieder auf den Weg, ermuntert und frisch gestärkt und ausgestattet mit einem kleinen Proviantpaket.
Das Tal hinunter in Richtung Süden gab es von Zeit zu Zeit eine Siedlung. Sie folgten einem großen Fluß, und soweit ging alles gut, aber plötzlich mußten sie seinen Lauf verlassen und gerieten in unwegsames Gelände. Das verwirrte sie sehr, denn sie konnten keinen Weg erkennen. Vor ihnen lag nur Wald, irgendwie hatten sie den Weg verloren. Auch wenn er nicht sehr ausgeprägt gewesen war, dort auf der Westseite des Flusses, war er doch jedenfalls ein Anhaltspunkt. Nun konnten sie nicht einmal mehr den Fluß entdecken.
Mattias setzte sich erschöpft nieder, wo er gerade war. »Und wo sollen wir jetzt übernachten?« fragte er entmutigt. Kaleb sah, wie müde und durchgefroren der Junge war. »Laß uns noch ein Stück gehen, und wenn wir einen Bauernhof sehen, gehen wir hin und fragen, ob wir in der Scheune schlafen dürfen.«
Mattias nickt und erhob sich mühsam. Es war schon lange her, seit sie zuletzt eine Siedlung gesehen hatten, und die Aussichten, für die Nacht ein Dach über dem Kopf zu finden, waren mehr als gering.
»Wir sollten versuchen, den Fluß wiederzufinden«, sagte Kaleb aufmunternd. »Da sind die Aussichten am größten.«
Sie begannen mit steifen Beinen zu gehen, und Kaleb sagte nichts, als Mattias seine Hand nahm.
Aber an diesem Abend war das Glück mit ihnen. Es hatte schon zu dämmern begonnen, als sie wieder das Rauschen des Flusses hörten, und gleich darauf sahen sie Licht von einem Bauernhof. Sie waren so müde, daß sie gar nicht erst um Erlaubnis fragten. Sie stolperten geradewegs in die Scheune und sanken ins Heu.
»Kaleb«, war das letzte, was Mattias an diesem Abend sagte. »Was ist, wenn wir Grästensholm nicht finden? Wir kommen bestimmt nie mehr nach Hause.« »Doch, ganz sicher, du wirst schon sehen.«
Es war das erste Mal, daß er Mattias so erschöpft und mutlos sah.
Er war ganz erschüttert. Mattias, der doch das Licht selbst war!
Und er begriff, wie sehr sein eigener Lebensmut abhängig war von Mattias' ruhiger, froher Zuversicht. Wenn der Junge den Mut verlor… was blieb dann noch, an das es zu glauben lohnte?
»Alles wird gut, Mattias«, sagte er und merkte selbst, wie hohl sich das anhörte.
Aber der Junge ließ sich von den leeren Worten beruhigen. Über seine eigene Zukunft dachte Kaleb nicht oft nach. Er war aus der Grube heraus, das war die Hauptsache. Jetzt galt es dafür zu sorgen, daß Mattias nach Hause kam. Das lag ihm sehr am Herzen. Anschließend würde es schon irgendwie weitergehen. Er war jung und stark, und sein ganzes Leben lag offen und frei vor ihm. Das war ein Gottesgeschenk für einen, der vier Jahre lang in der Finsternis eingesperrt gewesen war! Der Wald, durch den sie am nächsten Tag mußten, war nicht sehr groß. Sie fanden sogar eine Brücke über den Fluß - und dann lagen die hellen, offenen Täler von Ringerike vor ihnen.
Aber inzwischen hatte Mattias Blasen unter den Füßen von den harten Landstraßen, auf denen sie die letzten Tage gegangen waren. Er klagte nicht, aber Kaleb sah, daß ihm jeder Schritt Qualen bereitete. Mit der Zuversicht stand es auch nicht zum besten. Die Blasen hatten wohl noch andere Wirkungen als nur wunde Füße… Dann kamen sie zu einer größeren Siedlung.
Kaleb fragte einen, der ihnen entgegen kam, nach Grästensholm.
Der Bauer kratzte sich am Nacken. Nein, das kannte er nicht, aber sie sollten mal den Richter fragen, der heute hier eine Verhandlung leitete, er war aus Akershus. Mattias zuckte zusammen. »Dann muß er Großvater kennen! Wo ist das?«
Der Bauern zeigte auf den größten Hof, es schien der Pfarrhof zu sein. Dort sollte ein Streit entschieden werden, und die Feindschaft zwischen den beiden Parteien war groß, wie der Mann mit der unverhohlenen Schadenfreude des Außenstehenden grinsend erzählte. Sie gingen zum Pfarrhof. Offenbar war gerade eine Pause in der Verhandlung eingelegt worden, denn der Vorraum war voller eifrig diskutierender Bauern. Keiner hatte Zeit, Notiz von zwei halbwüchsigen Bengeln zu nehmen, die sich unauffällig hereinschlichen.
Im großen Festsaal des Pfarrhofes, der heute als Gerichtslokal hergerichtet war, war der Amtsrichter in ein ernstes Gespräch mit seinen Geschworenen vertieft. Unweit davon saßen einige
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