Die Saga vom Eisvolk 06 - Das böse Erbe
Jedesmal, wenn er einen Arm hob, schien er bleischwer zu sein, und seine Lunge arbeitete angestrengt.
Aber sie brauchten nicht so weit zurück zu gehen, wie sie befürchtet hatten. Nachdem sie die Hälfte der Schrägung hinter sich hatten, meinte Kaleb, daß es jetzt wohl gehen müßte. »Komm du zuerst herunter, Mattias!«
Er gehorchte sofort. Nervös wand er sich zuerst an Knut vorbei, der nun nur an seinen Armen hing, von den Kameraden gestützt, und dann am kräftigen Kaleb. »Jetzt mußt du Knut allein stützen, Mattias, bereite dich auf die Last vor!«
»Ja«, antwortete er zitternd und stemmte sich in den Schacht, so fest er konnte.
O Hilfe, war Knut schwer! Ich darf nicht abrutschen, ich darf nicht, dachte Mattias. Denn ich bin klein genug, um durch die enge Öffnung runter mir zu fallen. Und dann geht es senkrecht nach unten bis auf den Boden. Ein freier Fall aus der Höhe .. . Und dann dorthin. In die verhaßte Grube!
Nein, nein, nein, er wollte gar nicht daran denken!
Aber dann war Kaleb an Knut vorbei und hatte den Griff des Tragekorbes gepackt, und der Druck wurde leichter. Langsam ging es wieder aufwärts. »Ich kann… nicht mehr«, wisperte Knut.
Sie hielten an. Der Himmel schimmerte so verlockend über ihnen. Sollten sie niemals nach oben kommen? Nie, nie mehr?
Denn alle drei wußten, daß dies ihre letzte Chance war. Andernfalls würde die Grube ihr Grab werden. So wie für Sören.
Armer Sören, dachte Mattias. Es hätte ebenso gut einen von treffen können.
Sie nahmen all ihre Kraft zusammen. Und dann waren sie oben. Mattias und Knut suchten sich die beste Stellung, um auszuruhen - oder die am wenigsten schlechte -, während Kaleb sich an die Arbeit mit dem Gitter machte. Sie hörten, wie er alle seine Kraft einsetzte. Wenn Mattias hätte mithelfen können, wäre es wohl gegangen, aber das war ausgeschlossen. Sein Platz war bei Knut. »Wie geht es?« fragte Mattias.
»Wenn ich nur irgend ein Werkzeug hätte, dann… « »Ich habe die kleine Hacke mitgenommen«, sagte Knut. »Damit wir uns wehren könnten, wenn es notwendig werden sollte.« »Knut, du bist ein Engel«, sagte Kaleb.
»Nein, aber ich bin wohl auf dem besten Wege, einer zu werden«, keuchte Knut, während er dem Freund die Hacke hinaufreichte.
»Was machst du, Kaleb?« wunderte sich Mattias. »Ich kratze den Mörtel fort. Jungs, ich glaube, es geht! Aufgepaßt, mir ist ein Mauerstein heruntergefallen!«
Der Stein traf Knut an der Schulter, aber er gab nur ein halbersticktes Stöhnen von sich und ließ den Stein weiterfallen. Mattias konnte ihm ausweichen. Dann hörten sie alle drei, wie er gegen die Kaminwände schlug, tiefer und immer tiefer fallend, bis er unten im Ofen mit einem dumpfen Poltern aufschlug.
Sie versuchten einander in der Dunkelheit anzusehen. Es war ein seltsames Gefühl, daran zu denken, daß sie dort unten viele Jahre zugebracht hatten. Daß sie gefroren, gehungert, gelitten, verzweifelt geweint hatten… Aber auch wunderbare Freunde geworden waren. Kaleb machte sich wieder an die Arbeit.
Eine Ewigkeit später, als die Farbe des Himmels nicht mehr ganz so dunkelblau war, packte er extra kräftig zu. Sie hörten ein Knirschen, und Mörtelbrocken rieselten ihnen aufs Gesicht.
»Der Weg nach draußen ist frei«, sagte Kaleb mit gerührter, unsicherer Stimme.
Es hätte nicht viel gefehlt, und Mattias wäre vor lauter Andacht in Tränen ausgebrochen. »Wie sieht es dort aus?« fragte er.
»Der Schornstein ist nicht hoch. Jedenfalls nicht so hoch, daß wir nicht hinunterspringen könnten. Komm, Knut!« Kaleb kletterte auf den Rand und reichte dem Kameraden die Hand. Mattias sah Knut vor seinen Augen verschwinden, das letzte, was er von ihm sah, waren seine Finger, die sich an der Mauerkante festklammerten. Dann ließ Knut los und war weg. Draußen in der Welt!
Der kleine Mattias fühlte sich mit einem Mal so vollkommen allein und vergessen in dem verlassenen, unheimlichen Schornstein, daß er vor lauter Angst und Schreck hätte schreien mögen. Kaleb reichte seine Hand erneut herunter. »Willkommen in der Oberwelt, Mattias!«
Was für herrliche Worte! Er reckte seine Hand dem Licht entgegen und kam hoch.
Er atmete Nachtluft. Sog sie in tiefen Zügen ein. Es war ein ganz schönes Stück bis hinunter auf die Erde, fand er. Aber er machte es wie Knut, ließ sich an den Armen langsam an der Mauer herunter. »Jetzt laß los«, sagte Kaleb.
Mattias schloß die Augen und ließ sich fallen. Es war hoch,
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