Die Saga vom Eisvolk 06 - Das böse Erbe
Männer und unterhielten sich gedämpft.
Plötzlich wurde die Tür am anderen Ende des Saales unter lautstarkem Protest der Wachen aufgestoßen. Dann hörte der Amtsrichter eine gellende Kinderstimme, die sich vor Eifer überschlug:
»Großvater! Es ist Großvater! Komm, Kaleb!« Baron Dag von Meiden sah ärgerlich hoch. Wer wagte es, die Versammlung… Erst in dem Moment bemerkte er, daß der Ruf ihm galt.
Großvater? Er war nur noch der Großvater eines einzigen - Kolgrim. Und das war nicht Kolgrims Stimme… Zwei unglaublich abgerissen gekleidete Jungen hasteten durch den Saal, ohne daß die Wachen sie aufhalten konnten. Alle Augen waren jetzt auf die beiden Eindringlinge gerichtet. Der größere Junge, den man wohl eher einen jungen Burschen nennen mußte, folgte etwas zögernd dem Kleinen, der voranstürmte und über das ganze Gesicht strahlte. »Großvater!«
Dag von Meiden spürte einen schmerzhaften Stich im Herzen. Das konnte doch nicht sein…
Nein, er durfte nicht hoffen, durfte nicht schon wieder enttäuscht werden.
Aber dieses kupferrote Haar - nicht mehr so lockig - diese Gesichtszüge, diese Augen, die nur Mattias… Gütiger Gott im Himmel, er war es!
»Mattias!« brach es mit matter Stimme aus ihm heraus. Einen Moment lang drehte sich der Raum um ihn, und vor seinen Augen wurde es schwarz. Aber das ging vorbei.
In der nächsten Sekunde lag der Junge in seinen Armen, und der stattliche Richter weinte und lachte und herzte den Jungen, aus dem die Worte nur so hervorsprudelten, unverständliche Sachen über Gruben und Knut und Kaleb und Schornsteine in einem einzigen Durcheinander.
Langsam gelang es Dag, die Fassung wiederzugewinnen. Er schneuzte sich kräftig und verkündete mit gerührter Stimme, daß dies sein seit zwei Jahren verschwundener Enkel sei, den alle für tot gehalten hatten. Und dann begrüßte er Kaleb, der furchtbar verlegen wurde, als Mattias in den höchsten Lobestönen von ihm erzählte. Der Großvater brachte die Jungen in die Küche, wo sie zu essen bekamen, während er selbst die Verhandlung schneller als je zuvor beendete, und auf eine für ihn ungewohnt unkonzentrierte Weise. (Aber das Urteil fiel trotzdem gerecht aus, denn Dag von Meiden war ein Meister seines Faches.)
Dann setzte er sich in die Küche zu den beiden Lausebengeln und bekam eine einigermaßen zusammenhängende Schilderung dessen, was passiert war. Er war überglücklich, wie er da saß und seinen Enkel bewunderte, der viel magerer geworden war, aber stark und zäh wirkte, mit Fingernägeln, die die reine Katastrophe waren, aber er hatte dieselbe lebendige Wärme in den Augen wie damals. Auch der andere Junge gefiel ihm sofort, und Dag begriff, welche Stütze er Mattias gewesen sein mußte. »Und Muskeln habe ich bekommen, Großvater, sieh nur!«
Der kleine Junge zog den zerfetzten Ärmel hoch und zeigte ihm mit maßlosem Stolz eine kleine, harte Wölbung auf dem Oberarm. Der Großvater bewunderte sie gebührend.
Plötzlich wurde Mattias ernst. »Und Kolgrim, Großvater? Wie ist es ihm ergangen?« »Kolgrim? Dem geht es gut.«
Mattias war erleichtert. »Ach, Gott sei Dank, er ist zu Hause. Ich war so besorgt und traurig seinetwegen. Ich hatte Angst, er wäre ertrunken. Und er hat die Fische nicht tanzen gesehen. Es tut mir so leid für ihn.« »Ertrunken?«
Also hörte Dag auch diese Geschichte, und sein Gesicht verfinsterte sich zusehends.
Also stimmte es doch, was Yrja und Liv und Cecilie, ja sogar Meta befürchtet hatten! Vielleicht war wirklich etwas Wahres daran, daß Frauen ein besseres Gespür hatten als Männer? Kolgrim…
Es tat dem Großvater unerträglich weh. Denn auch für den älteren, unter einem unglücklichen Stern geborenen Enkel empfand er eine tiefe Liebe.
Eigentlich hätte Dag auf dem Pfarrhof übernachten sollen, aber jetzt konnte er es nicht mehr erwarten, nach Hause zu kommen. Man stelle sich vor, mit einer solchen Nachricht heimkehren zu dürfen! Und da das Urteil bereits gesprochen war, gab es keinen Grund mehr, zu bleiben. Er lud die beiden Jungen in seine Kutsche und fuhr auf schnellstem Wege nach Grästensholm. Auch der Kutscher hatte Mattias wiedererkannt und eine heimliche Träne vergossen, so gerührt war er. Das mußte er gleich seiner Frau erzählen. Und allen anderen. Er war der erste, der davon wußte!
Als sie in die elegante Kutsche steigen sollten, sagte Mattias: »Wir haben uns und unsere Kleidung sorgfältig gewaschen, Großvater. Deshalb glaube ich nicht,
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