Die Saga vom Eisvolk 06 - Das böse Erbe
menschenähnliche Form hatte?« sagte Liv. »Und weil es heißt, daß Alraunen Wunder bewirken können? Ich finde, das hört sich nicht sehr beruhigend an.«
Gabriella dachte dasselbe, sagte aber nichts.
»Nein«, sagte Kaleb, und seine rauhe Stimme klang anziehend auf eine Weise, die Gabriella beunruhigte.
»Nein, wir glauben, daß Kolgrim die Alraune bei sich hatte, als er begraben wurde. Zu dem Schluß sind wir später gekommen.«
Liv sagte nachdenklich: »Eine der Mägde behauptet, sie habe etwas Sonderbares in der Speisekammer neben der Küche gesehen.« »Und was war das?« »Das konnte sie nicht sagen. Sie hatte nur das Gefühl, daß sie nicht alleine im Raum war. Daß etwas sie aus den dunklen Ecken heraus beobachtete.« »Wie angenehm«, murmelte Gabriella.
»Sie kann doch wohl nicht zurückgekommen sein?« flüsterte Andreas. »Die Alraune, meine ich? Um Rache zu nehmen?«
»Es wird zwar gesagt, Alraunen seien lebendig und hätten eine Seele, aber das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen«, sagte Mattias. »Wie sollte sie… « Er erstarrte. Sie hörten es alle gleichzeitig. Ein schwaches, undefinierbares Geräusch. »Ratten?« flüsterte Gabriella.
»Auf Grästensholm gibt es keine Ratten«, sagte Liv. »Höchstens die eine oder andere kleine Maus.« Als Antwort polterte es dumpf.
»Das war aber eine ziemlich große Maus«, sagte Kaleb trocken.
»Sollen wir hinaufgehen?« flüsterte Andreas.
Die Männer erhoben sich. Gabriella sah fragend zur Großmutter, aber Liv blieb sitzen.
»Nun, Gabriella«, sagte Mattias. »Willst du nicht mitkommen?«
»Ihre Durchlaucht traut sich nicht«, murmelte Kaleb. Das ging ihr nun wirklich der Ehre zu nahe. »Selbstverständlich traue ich mich«, fauchte sie, und bevor sie selbst recht wußte, wie ihr geschah, war sie draußen auf dem Flur und schlich sich auf Zehenspitzen mit den anderen zur Treppe.
Sie bereute es bitterlich. Aber jetzt war es zu spät zur Umkehr.
13. KAPITEL
Liv lag in ihrem Bett und hörte, wie der Wind auffrischte. Hagelkörner peitschten gegen die Fensterscheiben. Sie grübelte darüber nach, was sich dort auf dem Dachboden verbergen mochte. Was Tarjei und Kolgrim dort entdeckt hatten. Aber Liv fand keine Erklärung.
Und dabei war sie die einzige, die es hätte wissen müssen. Aber das, was sie vor fünfundzwanzig Jahren getan hatte, das hatte sie längst vergessen.
Die vier jungen Leute befanden sich auf dem Weg die Bodentreppe hinauf, die im Grunde nicht viel mehr war als eine schmale, steile Leiter. Sie versuchten, so geräuschlos wie möglich zu gehen, aus Furcht, die Treppenstufen könnten knarren.
Gabriella hatte bereits ihre Aufgabe erhalten. Sie sollte an der Bodenluke stehen und aufpassen, daß dieses Unbekannte nicht den Weg nach unten nahm.
Sie hielt das nicht für eine angenehme Aufgabe. Noch weniger gefiel ihr, daß man ihr ein scharfes Eisenwerkzeug zugesteckt, und daß auch alle anderen sich mit einem eisernen Gegenstand bewaffnet hatten. Um ihn nach dem Ungeheuer zu werfen, falls es nötig sein sollte.
Dann waren sie alle oben. Der große, unbekannte Dachboden lag vor ihnen.
Niemand kannte sich hier aus, nicht einmal Mattias. Und Kerzen hatten sie nicht mitnehmen können. Alles mußte in größter Heimlichkeit vonstatten gehen.
Der Schneesturm peitschte gegen das Dach über ihnen und pfiff durch die Ritzen und unter den Dachbalken hindurch. Ein klagender, jammernder Trauergesang, der alle Geräusche übertönte, die sie hätten hören sollen. Ein Dachboden hat etwas Wehmütiges an sich. Dort häufen sich vergangene Zeiten auf, in einem Sammelsurium von Dingen, die gebraucht und benutzt und geliebt worden sind, vielleicht mehrere Generationen hindurch. Bis man sie hierher verbannt und dem Vergessen anheimgibt.
So dachte Gabriella mit einem schwermütigen Ziehen im Herzen.
Schlimmer aber war das Gefühl kriechenden Unbehagens, beinahe von Furcht, das einen auf einem Dachboden ergriff. All das Unbekannte, Geheimnisvolle, das sich hier verbarg…
Und diese Nacht war besonders unheimlich.
Denn sie wußten, daß etwas sich dort in dem finsteren Raum befand, der schwarz und undurchdringlich vor ihnen gähnte.
Gabriella spürte, wie die Männer ihr in der Dunkelheit davonliefen. Voller Panik griff sie nach einer Hand und versuchte, jedenfalls einen von ihnen festzuhalten. Er trat einen Schritt zurück und legte ihr sekundenlang beruhigend den Arm um die Schultern. An seiner Größe merkte sie, daß es
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