Die Saga vom Eisvolk 06 - Das böse Erbe
Tür.
»Gabriella«, flüsterte es durchs Schlüsselloch. »Bist du noch wach?«
Sie stand auf, zündete eine Kerze an und öffnete. Vier Paar erschrockene Augen schimmerten im Schein der Kerzenflamme.
»Wir haben Geräusche gehört«, sagte Nikodemus. »Kommt herein«, sagte Gabriella. Alle vier tapsten in ihr Zimmer. »Ah, wie gut es hier riecht«, sagte Eli. »Hoho!« sagte Per, das »Drosselküken«, und zog eine Grimasse. »Es riecht nach Dame. Parfüm!« Gabriella lachte. »Was habt ihr denn gehört?«
»Über unseren Köpfen hat sich etwas bewegt«, sagte Nikodemus.
»Schwere, schlurfende Schritte«, sagte Freda dramatisch. »Pah«, sagte Per. »Das waren doch keine schweren Schritte. Da ist etwas geschlichen - wie ein ruheloser Geist.« Gabriella schauderte.
»Wir trauen uns nicht, im Bett zu bleiben«, flüsterte Eli. »Na, dann kriecht mal in mein Bett, Mädels! Ihr Jungen könnt das andere nehmen. Ich bleibe eine Weile wach und werde lauschen.« Sie gehorchten, schnell wie der Blitz.
»Kannst du nicht Kaleb und Mattias holen?« fragte Freda.
»Nein, nicht mitten in der Nacht«, erwiderte sie rasch und wollte sich nicht eingestehen, daß der Gedanke sie erschreckte. Der lange Weg über finstere Flure und Treppen.
Gabriella blieb auf, während die Kinder in den Betten kicherten und schwatzten.
»Schht! Wie soll ich etwas hören, wenn ihr solchen Lärm macht?« mahnte sie. Sie verstummten augenblicklich.
Ihr gefiel der Gedanke nicht, daß es auf Grästensholm spuken könnte.
Den großen Dachboden kannte sie nicht, sie hatte nur einmal vor einigen Jahren einen kurzen Blick hineingeworfen. Er war ihr unheimlich erschienen.
Wie kam man noch dort oben hinauf? War da nicht irgendwo eine Treppe?
Die Kinder schliefen schließlich ein. Gabriella, nun ohne Bett, rollte sich im Sessel zusammen und versuchte zu schlafen.
Es war unmöglich, eine bequeme Stellung zu finden, so sehr sie sich auch drehte und wendete. Aber in das Zimmer der Mädchen zu gehen - das wagte sie einfach nicht. Feigling, schalt sie sich selbst.
Plötzlich fuhr sie entsetzt zusammen. Merkte, daß ihr Gesicht glühend heiß wurde. Auf dem Dachboden bewegte sich etwas.
Es hörte sich nicht nach einem Menschen an. Es hörte sich an wie… Unsinn! Gabriella war wütend über ihre eigene makabre Phantasie. Und doch… es hörte sich an, als ob ein Ding oder eine Leiche oder sonst etwas Undefinierbares sich mühselig über den Fußboden schleppte, um die Treppe zu erreichen. Und in den Flur hinunter zu kommen.
Entsetzten, Panik überfiel sie. Die Tür? War sie verschlossen? Konnte man sie überhaupt verschließen? Oh Gott, was soll ich nur tun? dachte sie. Kaleb holen? Wieso gerade Kaleb? Weil er der Größte und Stärkste war, natürlich.
Nein, sie wagte sich nicht auf den Flur hinaus. Niemals im Leben!
Wie hatte Großmutter gesagt? Merkwürdige Geräusche? Es mußte das hier gewesen sein, was sie gehört hatte. Dann - genauso plötzlich, wie sie begonnen hatten, genauso plötzlich verstummten die Geräusche. Auf dem Dachboden war alles still. Totenstill.
Himmel, konnte sie nicht endlich aufhören, so makaber zu denken?
In dieser Nacht machte Gabriella kein Auge zu. Als es Morgen wurde, erschien sie den drei anderen am Frühstückstisch selber wie ein ruheloses Gespenst, bleich, hohläugig und übernächtigt.
Kaleb sah sie forschend an, sagte aber nichts.
Das tat allerdings Mattias: »Du siehst aus, als hättest du eine schlimme Nacht hinter dir.«
»Das kann man getrost so sagen. Ich hatte alle vier Kinder in meinem Zimmer und habe die ganze Nacht im Sessel zugebracht.«
Liv blickt zu ihr herüber. »Hast du etwas gehört?« Gabriella nickte. »Die Kinder auch. Es hörte sich furchtbar an.«
»Bevor unsere süßen kleinen Lämmer hier auftauchen, sollten wir die Sache klären«, sagte Kaleb. »Was habt Ihr gehört?«
Sie versuchte, seinem Blick gelassen zu begegnen, ohne fortzusehen.
»Die Kinder hörten Schritte. Von schleichenden, ruhelosen Gespensterschritten bis hin zu schwerem, kettenschleifendem Getrampel - je nach Phantasie.« »Und Ihr, Markgräfin?«
Sie beschrieb die unheimlichen Eindrücke, die sie gehabt hatte. Von einem Etwas, das herunterzukommen versuchte.
»Das hört sich nicht sehr lustig an«, gab Mattias zu, aber seine sanften Augen funkelten vor Spannung. »Und was habt Ihr gehört, Großmutter?«
»Heute nacht habe ich nichts gehört. Da habe ich geschlafen. Aber gestern nacht. Da habe ich so diffuse
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