Die Saga vom Eisvolk 08 - Die Henkerstochter
mühsam elfmal. Da wußte Hilde, daß es neun war, denn das Uhrwerk lief immer der Zeit voraus. Mattias war nicht aufgetaucht. Gabriella war immer noch im Zimmer des kleinen Mädchens. Hilde rief Eli, damit sie bei Jonas wachte. Ansonsten war das Haus ziemlich leer. Die Bediensteten waren so gut wie fertig mit der Tagesarbeit.
Mit zitternden Händen schlang Hilde ihr schwarzes Umschlagtuch um Kopf und Schultern und band es um die Taille fest. Sie sprach ein stilles kleines Gebet und schlüpfte hinaus.
Noch nie hatte sie solches Herzklopfen gehabt! Es war, als wolle ihr Herz zerspringen.
Wenn nur die Männer auf ihren Posten waren! Der erste sollte bereits hier auf dem Hof liegen. Sein Gewehr würde mit einer Silberkugel geladen sein. Es gab nichts, wovor sie Angst haben mußte, versicherte sie sich selbst. Andreas und Kaleb hatten alles organisiert. Hatten sogar ein Fäßchen Bier mitgenommen für die Männer, falls die Wartezeit lang werden sollte. Es hörte sich so alltäglich an, fast gemütlich.
Sie würde dafür sorgen, daß die Wartezeit ihnen nicht quälend lang wurde. Sie würde den Weg hinauf zur Waldkate und zurück schneller schaffen, als jemals irgendwer vor ihr.
Es war jetzt so bewölkt, daß sie nicht einmal mehr ahnen konnte, wo der Mond stand. Vielleicht war er gar nicht aufgegangen? Doch, das war er, sie wußte es.
Diese Kreaturen… die sich nur bei Vollmond zeigten… Brauchten die nicht das volle Mondlicht, um herauskommen zu können? Sie hoffte es.
Weit dort oben hinter der Kirche konnte sie den nachtschwarzen, dichten Wald erkennen.
Nein, ich kehre um, ich gehe wieder ins Haus, das hier schaffe ich nicht.
Unsinn, war das denn etwas, wovor sie Angst haben mußte? Hatte sie nicht ihr Leben lang in der Kate am Wald gewohnt? Und jetzt sollte sie nicht den Mut haben, dorthin zu gehen? Ein einziges Mal?
Hilde schloß die Augen einen Moment lang und begann dann ihre lange, schwere Wanderung.
Ihre Schritte waren unsicher. Hätte sie nur eine Laterne gehabt, eine Fackel!
Mutter, dachte sie. Mutter, schau jetzt auf deine Tochter. Du warst immer so lieb zu mir. Warum mußtest du so jung sterben? Warum gehen die Guten immer zuerst, während die Minderwertigen weiterleben?
Wie sie dort von Elistrand Richtung Kirche ging, war sie wieder Nachtmanns Hilde, ganz allein auf der Welt - ohne Freunde.
In diesem Moment fühlte sie sich einsamer als jemals zuvor.
Mattias war nicht gekommen. Er hatte dem ganzen keinen Riegel vorgeschoben. In ihrer Enttäuschung darüber wurde ihr bewußt, wie sehr sie auf ihn gezählt hatte. Wie sehr sie damit gerechnet hatte, daß er zornig darüber sein würde, daß sie sich einer solchen Gefahr aussetzte. Und daß er sie daran hindern würde, zu gehen.
Aber er hatte nichts gesagt. Vielleicht wußte er nichts davon?
Jetzt müßte sie den ersten ihrer »Leibwächter« passiert haben. Wo mochte der nächste sein? Wie weit war der Abstand zwischen ihnen? Wenn sie nur ein winziges Zeichen erhalten konnte! Was, wenn sie gar nicht da waren? Wenn den ganzen Weg entlang niemand da war? Bei dem Gedanken wäre sie beinahe in Panik verfallen. Vor ihr lag der lange Weg hinauf zum Wald. Und niemand, niemand war dort. Nur sie selbst und… Ihr ganzer Plan baute darauf auf, daß sie ein menschliches Wesen fangen würden. Aber wenn es das nicht war? Wie schnell würde es dann gehen? Würden sie sich hervorwagen, die anderen? Würden sie nicht vielmehr um ihr Leben rennen?
Eine Silberkugel? Und wenn sie mit der einen Kugel, die sie hatten, vorbeischössen? Wenn sie nicht zu schießen wagten, aus Angst, sie zu treffen? Das war am wahrscheinlichsten.
Hilde blieb mitten auf dem schmalen Weg stehen. Noch war es nicht zu spät zum Umkehren.
Aber alle, die vielleicht am Weg lagen… Sollten sie denn die ganze Nacht dort liegen und auf sie warten, auf Hilde, die nicht kam? Sie begann wieder zu gehen.
Dort drüben war die Kirche. Hatten sie wirklich den Pastor dazu gebracht, Wache zu stehen? Hilde bezweifelte es. Der neue Pastor war nicht sehr umgänglich, er pochte zu sehr auf seine Würde. Der sollte einen ganzen Abend draußen stehen und Wache halten? Bestimmt nicht!
Die Friedhofsmauer… Sie eilte daran entlang, warf einen Seitenblick auf den Friedhof. Stand da nicht etwas? Ihr Herzschlag wurde schneller. Nein, es war nur ein hoher Grabstein.
Am schlimmsten war: Falls sie wirklich einen der Wächter am Wegesrand sehen sollte, würde es sie nicht beruhigen. Denn sie konnte ja nicht
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