Die Saga vom Eisvolk 08 - Die Henkerstochter
begriff, daß sie vorbeigelaufen war und sich nun auf dem Weg hinein in den tiefen Wald befand.
Ihre Kräfte waren erschöpft, nur das Entsetzen und nackte Todesangst trieben sie weiter. Sie kämpfte sich vorwärts, ohne länger dem Gestrüpp auszuweichen, wußte nicht, was sie tat, war nur noch ein einziger Schrei vor Angst und Entsetzen.
Auf einmal merkte sie, daß sie hinter sich nichts mehr hörte. Wieder schaute sie sich um. Die Bestie war verschwunden.
Sie lief noch ein Stück weiter, blieb dann aber stehen. Vollständig erschöpft sank sie zu Boden. Es stach und schmerzte in ihrer Lunge und in den Beinen, der ganze Körper bebte. Keinen Schritt mehr hätte sie noch tun können, ohne sich auszuruhen.
Hilde lag der Länge nach ausgestreckt auf dem Moos, ihre Brust hob und senkte sich schwer. Sie begriff das nicht, wußte nichts von der Vorgehensweise der Werwölfe, hatte nie die Sagen darüber gehört. Im nächsten Moment hielt sie den Atem an. War das nicht ein Ruf- weit entfernt?
Das konnte einer der Männer sein, die an der Kirche wachten. Die sie gehört hatten. Sollte sie es wagen, zu antworten? Ja, was hatte sie zu verlieren? »Hilfe!« rief sie. »Hier bin ich! Hilfe!« Es war nichts mehr zu hören.
Hilde schloß die Augen und versuchte, ihren keuchenden Atem zu beruhigen, aber nicht einmal mehr dazu hatte sie die Kraft. Sie mußte weiter, das wußte sie. Gleich, gleich. Nur noch eine kleine Weile. Bis die Beine sie wieder trugen.
Sie öffnete die Augen und entdeckte einen Felsvorsprung, nur einige Ellen entfernt. Er ragte über ihr in den Himmel. Der Mond schien jetzt ziemlich War, ein absolut runder Vollmond.
Etwas kroch an den Rand des Felsens und blickte auf sie herunter. Seine Augen leuchteten auf, als das Mondlicht hineinfiel.
Jetzt springt er, dachte sie und war kurz davor, die Besinnung zu verlieren. Sie schlug die Hände vor ihr Gesicht und schrie, wartete auf das Unausweichliche. Immer noch sah sie die Bestie dort lauern, mit gesenkten Kopf und aufragenden Schultern.
Aber nichts geschah. Ängstlich blickte sie wieder hoch. Das Untier war fort. Dafür stand ein Mann dort. Fast wäre sie voll jubelnder Erleichterung aufgesprungen, aber der Jubel blieb ihr im Halse stecken. Es war ein erschreckender Mann, der dort stand. Eine menschliche Gestalt - aber das war auch schon alles. Wolfsohren zeichneten sich vor dem Himmel ab, der ganze Körper war bedeckt von einem Zottelfell, anstelle der Hände hatte er Pfoten mit Krallen.
Das Gesicht konnte sie nicht erkennen. Es war unförmig, fellbehaart und beängstigend.
Er stand vollkommen still, leicht geduckt, wie sprungbereit, als lauerte er nur auf eine Bewegung von ihr.
Aber jetzt wußte Hilde, wo sie war. Diesen Felsvorsprung kannte sie. Und sie hatte sich einigermaßen erholt. Zumindest soviel, daß sie sich bewegen konnte.
Sie rollte sich rasch unter die Felsnase, so daß das Wesen dort oben sie nicht mehr sehen konnte, dann hastete sie am Felsen entlang und verschwand im Wald.
Das Untier sprang nicht. Es stand nicht mehr auf der Klippe, aber sie konnte es hören. Es hatte die Jagd wieder aufgenommen. Und jetzt als zweibeiniges Wesen. Wenn sie nur die mächtige Felswand dort drüben erreichte!
Diesmal schrie sie nicht. Denn sie durfte auf keinen Fall verfolgt werden.
Es war nicht weit, das wußte sie. Und das Wesen war noch weit entfernt, bewegte sich nicht so schnell wie in Tiergestalt.
Oder wie sollte man das nennen, was es jetzt war? Dafür gab es nur ein Wort: Werwolf!
Hilde bewegte sich so lautlos wie möglich. Hier war die Stelle, wo sie immer Preiselbeeren gesammelt hatte. Dann hatte sie es gleich geschafft. Dort war die Felswand. Sie lief ein kleines Stück daran entlang, bis sie einen Busch entdeckte. Früher einmal hatte sie eine schmale, niedrige Höhle hinter diesem Busch gefunden. Hilde warf sich lang auf den Boden und rollte sich unter den Felsen, preßte sich flach in die Mulde unter dem mächtigen Steinkoloß.
Dort blieb sie liegen, still wie eine Maus, wohl wissend, daß Wölfe einen ausgezeichneten Geruchssinn haben.
11. KAPITEL
Spinnweben kitzelten sie im Gesicht. Vermutlich teilte sie den Platz mit anderem, unbekannterem Getier. Es war ungemütlich eng unter dem Felsen. Aber sie war von außen nicht zu sehen. Das war die Hauptsache. Fragte sich nur, ob sie zu riechen war.
Hilde legte großen Wert auf Sauberkeit, also hatte sie keinen eigentlichen Geruch an sich. Aber sie wußte, daß Tiere wittern können, ob
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